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Comicoskop Nr. 16 / Februar 2020 bis März 2020 / 7. Jahrgang / Gegründet im April 2014 / Online seit Dezember 2014

Comicoskop-Rezensionen: Comics, Graphic Novels, Mangas und Fachbuch.

Skurriles Sammelsurium, gekonnte Anti-Grafik:

Jan Bachmann lässt beim "Berg der nackten Wahrheiten" die intellektuellen Muskeln spielen

...und überzeugt durch kauzige Grafik / Zweiter Bachmann-Band bei der Züricher Edition Moderne / Erneut Prädikat Besonders Wertvoll!

Eine Rezension von COMICOSKOP-Redakteur und Edelfeder Tillmann Courth

Der neue Bachmann! (Das klingt so schön reißerisch nach Bestseller-Autor.) Der neue Bachmann! (Dabei ist es erst der zweite Comic, den der noch junge Schweizer Illustrator gestaltet!) Der alte Bachmann jedenfalls, sein Erstlingswerk MÜHSAM – ANARCHIST IN ANFÜHRUNGSZEICHEN schlug schon ein wie eine Bombe. Und erntete hymnische Verzückung (auch) von Seiten unseres COMICOSKOP-Redakteurs und -Rezensenten Tillmann Courth. Der neue Bachmann verdient denn auch erneut das Prädikat Besonders wertvoll: Der Zeichner und Autor wühlt sozusagen im Altpapier der Geschichte, zerrt vergessene Schriften und Manifeste hervor. Die Bewohner des Bergs der nackten Wahrheiten stecken allesamt im Klein-Klein der menschlichen Natur: Käseverzehr, Latrinendienst, Trunksucht, romantische Anwandlungen. Es kommt halt immer was dazwischen … So gelingt es Bachmann wieder einmal durchs Beschreiten abseitiger Pfade unser aller kollektives Erregungsbewusstsein zu besänftigen, findet unser COMICOSKOP-Kritiker Tillmann Courth.

Gleich vorweg: Auch DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN enttäuscht den COMICOSKOP-Rezensenten nicht, sondern glänzt mit den bewährten Bachmannschen Qualitäten. Der Auteur/Zeichner lässt erneut seine intellektuellen Muskeln spielen und präsentiert uns in seiner kauzigen Grafik semifiktive Begebenheiten aus der Gegend um Ascona im Jahre 1900.

 

Eine Kommune aus Veganern (damals noch „Vegetabilisten“ genannt), Nudisten und Anarchisten lebt auf einem Hügel über dem Lago Maggiore. Tolle Kombination!

 

Im Plenum der Kommune diskutiert man Ansätze zur Weltverbesserung.

Da packt mich auch direkt die erste Bachmann-Verblüffung: Gewisse Leute waren doch vor langer Zeit schon weitaus radikaler drauf als heute! Oder kennen Sie solche Leute?

 Der Stoff ist wieder mal schräg ausgewählt (Bachmann hat einige Recherche zum „Monte Verità“, so hieß der Hügel später, betrieben und mehrere Bücher gewälzt). Und wie schon bei MÜHSAM die Biografie verweigert wurde, ist DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN auch keine Comicreportage über Proto-Hippies in der Schweiz.

Bachmann nämlich engt quasi introspektiv seinen Blick auf die Randfigur des Gustav („Gusto“) Gräser ein. Ein Gammler, der sich aus der stressigen Gemeinschaft (sehr lustig: Wer ist der heimliche Käse-Esser, nachdem anhand einer aufgefundenen Käserinde gefahndet wird?) rauszuhalten sucht und wirklich bloß – mit dem Kosmos im Einklang – nackt über die Wiesen tanzen will.

 

Die Eröffnungsseite von DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN: Gusto tanzt.

Freie Liebe 1900, Mekka der Eigensinnigen und "Republik der Heimatlosen" (Erich Mühsam): Was war eigentlich der echte Monte Verità?

Eine kurze, aber wahre Geschichte von Comicoskop-Redakteur Martin Frenzel.

Luft, Licht und Liebe: Der echte Monte Verità geriet als anarcho-alternatives Zentrum zwischen Veganismus und Nacktheit vor allem im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zum Mythos: 1900 kaufte Henri Oedenkoven, der Sohn eines belgischen Industriellen, zusammen mit seiner Geliebten, der Münchener Pianistin und Musiklehrerin Ida Hofmann, für 150.000 Franken ein anfangs 1,5 Hektar großes Stück Land. Ihr beider Ziel:  Auf dem Berg naturnahe Lebensformen verwirklichen. Sie träumten von einem alternativen Sanatorium.  In den Folgejahren verwandelte sich der Monte Verità indes zu einer Austeigerkolonie - mit FKK  und Gartenarbeit im Adams- oder Evakostüm...

Den Anarchisten und Schriftsteller Erich Mühsam verschlug es um 1904 mit männlichem Partner hierher, der Berg der Wahrheit als Mekka der freien Liebe und des libertären Anarchismus... Die Bewohner dieses Ökopax- und Lebensreformer-Refugiums lesen sich wie ein Who is who der Querdenker jener Zeit: So gaben sich hier, in der Hochburg der Jahrhundertwende 1900-Hippies, Persönlichkeiten wie  Hans Arp und Hugo Ball, aber auch der Philosoph Ernst Bloch, Hermann Hesse, Hans Richter, Arthur Segal und viele andere ein Stelldichein.  Hermann Hesse, der seinen Freund, den Monte Verità-Mitgründer Gusto Gräser, in den Meistergestalten seiner Dichtungen verewigte, aber ebenso dank Gerhart Hauptmann, Bruno Goetz und Reinhard Goering, Emil Szittya und weitere Dichter, geriet der 320 Meter hohe Berg bis 1920 zu einem Mythos. Aber auch August Bebel, Karl Kautsky und Otto Braun, Else Lasker-Schüler, Erich Maria Remarque  und sogar ein D.H. Lawrence und Fürst Peter Kropotkin  pilgerten hinauf zu dieser - wie Mühsam den Berg taufte - "Republik der Heimatlosen"... Otto Gross plante auf dem Hügel denn auch nichts weniger als eine "Hochschule zur Befreiung der Menschheit"... Aus ganz Europa und Übersee strömten Zeitgenossen auf den "Berg der Wahrheit": Da tummelten sich Theosophen, Lebensreformer und Anarchisten, aber auch Kommunisten, Sozialdemokraten, Psychoanalytiker, nicht zuletzt Literaten, Schriftsteller, Dichter und Künstler und die heimatvertriebenen Intellektuellen beider Weltkriege.

All das kam nicht ungefähr: Zog es doch Anarchisten wie Bakunin

 schon vorher - in seinem Fall: 1869 - nach Locarno, also in genau die gleiche Gegend... Aber der oberhalb des Schweizer Fischerdorfs Ascona am Laggio Maggiore im Tessin gelegene "Berg der Wahrheit" lockte auch keinen Geringeren als den Vordenker des deutschen Anarchismus selbst, Gustav Landauer. Dieser spielte später, in den Wirren der Münchner Räterepublik von 1919 eine Schlüsselrolle (neben Mühsam & Co.), ehe er von faschistischen Freikorps gefoltert und brutal ermordet wurde.  Die Einheit von Geist, Seele und Körper, Gartenarbeit, Gymnastik, ausgedehnte Sonnenbäder und ungezwungene Nacktheit, aber auch Licht-Sonnen-Hütten und vegetabilische, radikal-vegetarische  Kommune-Lebeweise (lange vor der Veggie Day-Welle des 21. Jahrrhunderts)  sollte allseits befreien, entgiften und entspannen...Der Monte Verità avancierte von 1900 an zum Zufluchtsort für Weltverbesserer und Nackttänzer aller Art, zog Künder eines dritten Weges zwischen den Blöcken Kapitalismus und Kommunismus magisch an. Auf der Homepage der heutigen Fondazione Monte Veritá heißt es: "In Reformkleidern und mit langen Haaren verrichten sie harte Garten- und Feldarbeit, errichten schlichte Hütten, entspannen sich mit Eurythmie und Nacktbaden, leben nahe den Elementen Licht, Luft Wasser, Sonne, ernähren sich unter Vermeidung aller tierischen Nahrung nur von Pflanzen, Gemüsen und Früchten. Sie verehren die Natur, predigen ihre Reinheit und interpretieren sie symbolisch im Sinne des romantischen Gesamtkunstwerks". 

Der Berg der Wahrheit firmierte in den Augen ihrer Bohème-NutzerInnen mal als "Parsifalwiese", mal als "Walkürefelsen" oder auch als "Harrassprung"... 

Die einseitige Ernährung auf dem Wahrheitsberg mit Rohkostgemüse, ungekochten Früchten und Nüssen und die Beigabe von Speisesalzen machte so manchem Kommunarden schwer zu schaffen. So ist die Anekdote über Erich Mühsam – einem der  Gründungspioniere der Kolonie – überliefert: Demnach soll sich der Meister nächtens heimlich vom Gelände heruntergeschlichen haben, "um in einem der für das Tessin damals schon typischen 'Grotti' eine zünftige Fleischmahlzeit zu verzehren" (vgl. Planet Wissen)...                                 Martin Frenzel


Fotos: Fondazione Monte Verità

Luft, Licht und Liebe auf dem Monte Verità... Foto: (c) Projekt monteverità.net

COMICOSKOP-REZENSION: Lesen Sie die Rezension des ersten Jan Bachmann-Bands "Mühsam - Anarchist in Anführungsstrichen" aus der Feder unseres COMICOSKOP-Rezensenten Tillmann Courth bitte HIER:

Diesem Vogel läuft aus dem Dorf eine Ziege zu, die er als Weggefährtin annimmt und auf den Namen Parsifal tauft. Die nächste Bachmann-Verblüffung: Die Ziege war bloß neugierig und wollte (wie die meisten Dorfbewohner) die Spinner auf dem Hügel mal in Augenschein nehmen.

Die Ziege bekommt auch eine Stimme, sie denkt in gelben Sprechblasen, wie auch später ein Kollege, der Esel der Kommune, der die Latrinenfässer vom Berg transportieren muss.

 

Ziege und Esel schütteln ihre Köpfe über die „absonderlichen Haarmenschen“, die in dieser paradiesischen Umgebung dennoch unter dem Fluch der Vertreibung (Garten Eden) leiden – wie auch unter massivem Hunger. Als vegetabiler Anarchist setzt man kein Fett an und kämpft um jede fade Pastinake.

Abenteuer in der Latrinengrube.

Gusto Gräser möchte der Dorfgemeinschaft ihren Parsifal abkaufen, hat aber überhaupt kein Geld und offeriert stattdessen einen Nackttanz auf dem Marktplatz von Ascona. Das kommt bei der Bevölkerung nicht gut an, zudem er den Vorschlag während einer katholischen Messe unterbreitet.

Dem Pfarrer platzt der gestärkte Kragen. Rabiates Ende einer angekündigten Tanzperformance.

 Im Fortgang des Comics versucht Gusto noch, einen verarmten Adeligen (den alkoholsüchtigen „Schnapsbaron“) mit einer hübschen Waschfrau aus dem Dorf zu verkuppeln. Ein Unterfangen, das ebenfalls grandios scheitert – allein an der Tatsache, dass besagte Isidora bereits verlobt ist.

So präsentiert DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN ein skurriles Sammelsurium an Charakteren und enthält sich (auch das ein Bachmann-Markenzeichen) jeglicher Wertungen. Wie bei MÜHSAM begegnen wir Menschen, die Dinge tun, vornehmlich belanglose.

 

Aber so ist das Leben. Das ist die Wahrheit. Womöglich die nackte.

Die letzte Seite: Gusto, Parsifal und der Latrinen-Esel auf dem Weg in ein neues Paradies?

Nun noch warme Worte zum Artwork von Jan Bachmann, das mir ja bestens gefällt – weil es so ‚anti‘ ist! Es ist auf Deutsch gesagt unkontrollierbar. Ich frage mich schon, ob der Künstler es unter Kontrolle hat. Das Artwork von Jan Bachmann ist mehr ein epileptischer Anfall am Zeichentisch als eine wohltemperierte Komposition.

Es ist in gewisser Weise ‚krank‘, es lässt den Betrachter schwindeln – doch es ist immer organisch. So irre diese grafische Vision ist, es ist eine Vision (wenn auch eine schwer einzuordnende). Einzufangende? Wovon träumt dieser Mensch nachts?

Der Stil kommt mir zuweilen pseudokubistisch vor (in Ermangelung einer besseren Beschreibung), denn es sind unmögliche, groteske, lästerliche Gesichter, die uns von diesen Seiten anstarren.

Das ist ein Schock, ein Frevel, ein Bruch mit Konventionen, den vielleicht nicht viele Leser*innen mitgehen (von goutieren gar nicht zu reden). Meine Augäpfel stolpern auch auf jeder Seite und möchten sich aus dem Kopfe drehen, aber dann folgen zauberhaft wilde Landschaften oder skurrile Perspektiven in zwei Dimensionen, alles visuell versöhnlich, in ihrer Künstlichkeit und Kunsthaftigkeit entwaffnend.

Bachmann macht einen fertig mit seinen Bildern, aber es ist ein Genuss, auf diese Weise herausgefordert zu werden. Weirdo!

Und das ist mal eine Seite reine Landschaft. Erst denkt man „WTF?“, dann geht man drin verloren.

 

Erich Mühsam spielt leider nicht mit, wie ich nach Lektüre des MÜHSAM-Werks fälschlich gemutmaßt habe. Er ist jedoch in drei herrlich abfälligen Zitaten über die Kommune präsent: „Ehe hier Hotels und Kurhäuser entstehen, wollte ich lieber, dass einer der umliegenden Berge einen ungeahnten, mildtätigen Krater enthüllte, der noch vorher alle Lieblichkeit dieses Ortes in Lava und Asche ersäuft.“

Bachmann hat sich offensichtlich gegen einen Protagonisten Mühsam entschieden, es wäre auch zu viel Mühsam geworden. Clever dehnt der Zeichner die erzählerische Leinwand aus und skizziert uns mit Gusto Gräser eine andere Sichtweise.

Sein Panorama der Jahrhundertwende wird bereichert um neue Ausblicke und narrative Farbtupfer: Freaks im schweizerischen Exil, fernab der hysterischen Geschehnisse im Kaiserreich und in Resteuropa.

 

Diese Männer und Frauen suchen Frieden, Zusammenhalt, ein nachhaltiges Leben.

 

(Der ideale Soundtrack zu DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN ist übrigens Herbert Grönemeyers „Mensch“, so erschreckend das sein mag, aber lassen Sie sich drauf ein.)

Diese Männer und Frauen wagen einen Entwurf, doch bleiben sie stecken im Klein-Klein der menschlichen Natur: Käseverzehr, Latrinendienst, Trunksucht, romantische Anwandlungen. Es kommt halt immer was dazwischen …

Und wieder schaut Bachmann da hin, wohin niemand anders schauen würde, wenn er das Europa von 1900 behandeln wollte. Dieser Künstler wird fündig abseits der ausgetretenen Pfade. Er wühlt sozusagen im Altpapier der Geschichte, zerrt vergessene Schriften und Manifeste hervor. Genau mit dieser Methode entreißt Bachmann die allzu bekannte Historie einer Pauschalisierung auf eben das Bekannte.

Dass da aber noch so viel mehr passiert ist, und sei es null und nichtig, ist dennoch entdeckenswert und hat das Zeug, durch solche Entschleunigung unser kollektives Erregungsbewusstsein zu besänftigen.

Das ist der Zauber an seinen Werken. Für den hier schreibenden COMICOSKOP-Rezensenten jedenfalls.

Gusto grübelt wenig produktiv über den Baron und die Waschfrau nach. Man beachte das kreative Panel 1: Wir schauen mit den Fischen auf Gustos Beine und ein Schlappohr der Ziege.

Die Schweizer Comic-Entdeckung: Jan Bachmann. Foto: Edition Moderne

Jan Bachmann*1986 in Basel, hat an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin studiert. 2013 bis 2015 war er Mitglied in einem brandenburgischen FKK-Verein. Sein erster Comic „Mühsam, Anarchist in Anführungsstrichen“ ist 2018 bei der Edition Moderne erschienen und wurde unter anderem für den Max und Moritz-Preis nominiert. Aktuell arbeitet er an einem Buch zum Exil von Kaiser Wilhelm II in Holland.

Zum Schluss seien Hardcore-Preis-Leistungs-Leser*innen gewarnt: DER BERG DER NACKTEN WAHRHEITEN bietet für seine 24 Euro nur 70 farbige Seiten netto.

 

Hinzu kommen zehn Seiten launige Werksnotizen vom Autor höchstselbst sowie 15 Seiten schwarzweißer, skizzenhafter Epilog: das Gespräch zwischen Investor und Architekt, das den ‚Ausverkauf‘ der Kommune und seine Wandlung zum Luxus-Spa dokumentiert.

 

(Kleine, böse Fußnote in vornehmstem Ton.)

(c) Alle Comic-Abbildungen auf dieser Seite: Jan Bachmann & Edition Moderne, Zürich.

24 Euro für 70 nochwas Seiten?!

 

Jaha, das ist der Preis für … den neuen Bachmann!

 

TILLMANN COURTH (TIC)

Tillmann Courth, Jahrgang 1963, lebt in Köln. Unser vielseitig interessierter COMICOSKOP-Redakteur der ersten Stunde und die Edelfeder der Redaktion, ist zwar ausgewiesener US-Comic-Kenner und Horrorcomic-Nerd. Aber das hindert ihn nicht daran, einen René Goscinny vom Sockel zu stoßen, bei Comic-Rezensionen mal zu loben, mal zu tadeln...

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