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Comicoskop Nr. 15 / Januar 2020 - März 2020 / 7. Jahrgang / Gegründet im April 2014 / Online seit Dezember 2014

Asterix: Die Anleihen des René Goscinny, Teil 3

Erstmals auf COMICOSKOP erschienen März 2015

War ASTERIX noch niemals in New York?

Ist der tapfere Gallier inspiriert durch einen US-Comic des Jahres 1942?

Eine Investigativ-Recherche von Comicoskop-Redakteur Tillmann Courth

Hmmm, wie fange ich diesen Comicoskop-Artikel an? Ich zeig Ihnen

den Comic! Die folgende Splash-Page fand ich in den JOKER COMICS Nr. 1 aus dem Jahre 1942. Denken Sie, was ich dachte, wenn Sie diese Seite betrachten? 

(c) Joker Comics

 

Also, ich hab gedacht: Das ist doch Asterix!

Nein, ist es nicht, es ist „Alec the Great“ – steht ja

auch fett drüber. Dennoch wirkt der zierliche Mann mit dem Flügelhelm, dem prominenten Schnäuzer und dem seltsamem Kostüm verdammt wie Asterix, der tapfere Gallier.

Die Figur Asterix wird jedoch bekanntlich erst 1959 von

Autor René Goscinny und Zeichner Albert Uderzo für das französische Comic-Magazin PILOTE erschaffen!

Was ist hier los? Der Reihe nach: Ich bin befreundet mit dem US-amerikanischen Sammler und Comichistoriker Jim Vadeboncoeur, Jr. Den treffe ich zweimal im Jahr (ausgerechnet in Paris!). Er bringt mir stapelweise alte US-Comichefte mit, die für ihn digitalisiere. Bei unserem letztjährigen Frühjahrstreff waren Raritäten aus den frühen 40er Jahren darunter: JOKER COMICS, COMEDY COMICS, KRAZY KOMICS. Ich schlage die JOKER COMICS Nr. 1 auf – und mich

trifft der Schlag. Siehe oben. „Alec the Great“ ist die sechsseitige Geschichte eines Straßenreinigers (Alec), der sich nach dem Vorbild von Marvels Captain America ein Superheldenleben erträumt. Er entwirft sich ein Kostüm, nennt sich „Alec the Great“ und schwört, das Verbrechen auf der Straße zu bekämpfen.

(c) Joker Comics

Auf Gelegenheit muss er nicht lange warten. Er wird Zeuge einer Entführung im Städtischen Museum und nimmt die Verfolgung der Gangster auf. Heldenheft dringt er ins Versteck der Bande ein, um den Kurator Saxton zu befreien. Mittels seiner Kehrschaufel teilt Alec tüchtig aus, wird jedoch überwältigt und gefesselt. 

(c) Joker Comics

Die Gangster holen derweil das Lösegeld ab und werfen

auf dem Weg den armen Alec ins Hafenbecken. Der aber kann sich befreien, nimmt erneut die Verfolgung auf und liefert die Bande dank seines Wissens der Polizei aus. Im letzten Bild zieht der Straßenfeger singend davon, der Textkasten darunter kündigt an: „Follow the amusing and amazing adventures of Alec the Great in the

next issue of this magazine!“ – dazu aber kommt es nicht!

In allen folgenden Ausgaben der JOKER COMICS ist Alec

verschwunden. Ich habe eine Vermutung, weshalb das so ist: Die Serie „Alec the Great“ existiert bereits mit anderem Inhalt. Denn sie ist ein

Zeitungs-Comicstrip von Edwina Dumm, angeblich von den 30er Jahren bis hinein in die 60er Jahre veröffentlicht (nähere Angaben fehlen). Hauptfigur ist ein drolliger Hund. Da wird es Copyright-Ärger gegeben haben. Kein ungewöhnlicher Vorgang in der wilden Welt der

Comicstrips und Heftchen. Öfter mal wurden Serien und Titel aufgelegt, ohne vorher zu prüfen, ob der Name überhaupt frei war…

Kleiner Mann - ganz groß

Beim zweiten Erscheinen unseres Asterix-Lookalikes

heißt die Serie deshalb auch nicht mehr „Alec the Great“, sondern „Archie the Gruesome“.

Aus dem „Großen Alec“ ist also ein „Grausiger Archie“ geworden, eine

sicherlich ironische Note. Beim zweiten Auftauchen des Straßenfegers hat sich das Kostüm leicht gewandelt. Die Hose ist nun gelb statt weiß, und die Hemdsärmel sind nicht mehr weiß abgesetzt vom roten Hemd, sondern komplett rot.

Zudem erscheint „Archie the Gruesome“ nicht in der

Reihe JOKER COMICS, sondern im Schwesterheft COMEDY COMICS (und zwar Nr. 10), zwei Monate nach „Alec the Great“.

Kurz zur Handlung der „Archie the Gruesome“-Episode vom Frühsommer 1942: Einem brutalen Übernahmeversuch seines Kehr-Reviers durch den Kollegen „Big Joe“ begegnet Archie durch ebensolche Gewalt. Vor dem zunächst belustigten Joe wandelt sich Alec/Archie in den „Grausigen Archie“ und erledigt ihn dann mit einem herzhaften Schlag (untermalt von viel Speedlines und Soundeffekt). Die komödiantisch geschilderte Gewalt kulminiert im Abräumen

des Bösewichts in dessen eigenen Kehrwagen.

(c) Joker Comics

Auf Seite 2 rettet „Super“-Archie eine junge Frau aus

einem Hausbrand, was ihn schlagartig zum Helden stempelt. Zum Lohne darf er als Sänger ein Konzert geben. Dabei stört ihn seine Nemesis Big Joe mit Zwischenrufen – woraufhin er von Archie erneut vermöbelt und öffentlich gedemütigt wird. Auch dies geschieht grafisch mit einiger Komik. Liebe COMICOSKOP-Leserinnen und -Leser, beachten Sie die kreiselnde Faust im sechsten Bild (die erinnert mich an die Darstellung von Gewalt in ASTERIX)… 

(c) Joker Comics

Auf Seite 4 verteilt Big Joe Müll in Archies Revier, um

ihm Extra-Arbeit aufzuhalsen, wird dabei jedoch vom Bürgermeister erwischt und muss alles wieder selber aufräumen. Seite 5 schließt das zweite und letzte Alec/Archie-Abenteuer mit einer reinen Bildersequenz ohne Worte ab: Archie bekommt zunächst einen Rüffel von einem Inspektoren, weil er Müll hat liegen lassen, dann reinigt er die Straße besenrein und blitzeblank. Im letzten Bild jedoch fährt der Gouverneur vorüber, eine Konfettiparade begleitet dieses

Ereignis, Archie geht vor Wut in die Luft – und Big Joe kann wieder lachen.  

(c) Joker Comics

Wir fassen zusammen: Das Feature „Alec/Archie“

erscheint nur zweimal in der ersten Jahreshälfte 1942. In JOKER COMICS Nr. 1 und in COMEDY COMICS Nr. 10. Noch dazu ist das Cover des letztgenannten Hefts der Figur Archie (mit wieder andersfarbigem Kostüm) gewidmet!

(c) Comedy Comics / Timely Comics

Dennoch ist nach diesen beiden Malen Schluss mit der

Figur. Sie verschwindet in der Versenkung und erscheint auch in keinem folgenden COMEDY-Heft (ebenfalls nicht in den Schwesterserien JOKER und KRAZY).

Wir wissen nicht, wer Alec/Archie getextet und

gezeichnet hat. Aber das Herz des Verlags schlägt offenbar nicht mehr für heldenhafte Straßenfeger. Vielleicht wollte man die hauseigenen Heldentitel auch nicht mehr parodistisch durch den Kakao ziehen. Superheldenparodien haben sich zudem nie gut verkauft, erst recht nicht zur Hochzeit der Helden in diesen frühen 1940er Jahren…

Die zweite Geschichte ist bereits auf fünf Seiten geschrumpft, bietet keinen Splash mehr und wirkt im Ganzen eher lieb- und ratlos.

Verlag dieser Hefte ist übrigens „Timely Comics Incorporated“, der Redakteur dort heißt Stan Lee. Der zu dieser Zeit 19-jährige

Autor wird seinem Haus über Jahrzehnte treu bleiben und zum Weltstar werden (dann aber laufen seine Comics unter dem bekannteren Signet „Marvel“).

Auftritt René Goscinny...

Spinnen wir nun den Faden unserer Detektivgeschichte

über den Atlantik – nach Frankreich. Dort leben alle französischen Comiczeichner. Alle? Nein! Ein kleiner, tapferer Franzose fühlt sich nach

Amerika gezogen:

ASTERIX-Autor René Goscinny (1926 - 1977) verbringt (mit

Genialer Asterix-Texter René GoscinnyFoto: (c) Arte TV

(aus dem Film "René Goscinny - Ein Leben für den Humor")

Unterbrechungen) ca. fünf Jahre in New York (1945-50), weil er eigentlich für die Disney-Studios arbeiten will. Stattdessen lernt er Harvey Kurtzman kennen, der ihm einen Job als Kolorist für Kinderbücher beschafft. Kurtzman wiederum (das spätere Mastermind von MAD) schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten für Timely Comics durch (darunter seine herrlichen Ein-Seiten-Füller unter dem

Titel „Hey Look!“). Dieser Verlag benannte sich viele Jahre später (wie

oben erwähnt) in Marvel Comics um. Timely veröffentlichte zu Beginn der 1940er Jahre neben „Captain America“, „The Human Torch“, „Sub-Mariner“, „USA Comics“ und „Young Allies“ auch die Humor- und Funny-Animal-Hefte JOKER COMICS, KRAZY KOMICS, GAY COMICS und COMEDY COMICS.

Wie kommt Goscinny zu Alec/Archie, und wie wird daraus

Asterix? Meine Verdachtskette läuft wie folgt: Goscinny lebt in New York und hängt in der dortigen Zeichnerszene ab. Kollege

Kurtzman (oder jemand anderes), der für Timely/Marvel arbeitet, hat einen Stapel alter Comichefte aufbewahrt. Darunter sind die beiden, die „Alec the Great“ bzw. „Archie the Gruesome“ beinhalten. Goscinny kriegt eins davon (oder beide) in die Finger. Die schräge Figur mit dem antiken und völlig anachronistischen Flügelhelm imponiert ihm. Goscinny macht sich Skizzen davon und verwahrt den Charakter im Hinterkopf – für eventuelle spätere Verwendung.

Als er Ende der 1950er Jahre die Asterix-Figur mit seinem Zeichner Albert Uderzo (Jahrgang 1927) entwickelt, macht er ihm Design-Vorschläge, die auf dem Alec/Archie-Prototyp beruhen.

Das ist natürlich alles Spekulation!

Aber ich halte es für DENKBAR. Das ist der Spaß daran.

Jeder, der diese Bilder sieht, denkt automatisch an Asterix. Die Ähnlichkeit ist eigentlich zu groß, um purer Zufall zu sein.

Betont sei, dass diese Ähnlichkeit hauptsächlich im

grafischen Bereich liegt. Figurenzeichnung und Handhabung der physischen Aktion haben viel mit dem späteren Asterix gemeinsam. Der Inhalt ist eine Mixtur aus Superheldenparodie, Crime Story und slapstickartigem Funny. Allein das Motiv des „Underdogs“ als „Triumphators“ weist Parallelen zu Asterix auf. Leider weiß ich hier nicht mehr weiter.

Ich bin kein Asterix-Fachmann. Ich habe keine Ahnung, welche Entstehungsmythen Goscinny und Uderzo über ihren Gallier verbreitet haben. Der Ball liegt hiermit bei den Asterix-Kennern. Mit Freuden präsentiere ich hier (nur) die US-amerikanische Hälfte des Puzzles.

(c) Joker Comics / Timely Comics


(TIC)

Heute lebt Comicoskop-Redakteur Tillmann Courth als Hausfrau und Mutter in Köln und heimwerkelt neben dem COMICOSKOP (www.comicoskop.com oder www.comicoskop.de) auch an u. a. seiner Spezial-Webseite Fifties Horror (www.fifties-horror.de), die ausschließlich Pre-Code-Gruselcomics der frühen 1950er Jahre gelten lässt!

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