Familiär bedingt bin ich ab und zu in Spanien, und seit letztem Jahr interessiere ich mich für die spanische Comicszene. Man muss nur mal zu stöbern anfangen: Buchhandlungen zum Beispiel haben oft große Comicabteilungen mit breitem Spektrum, und in jeder Stadt gibt es mindestens einen Comicladen! Und die sind alle nicht übel. Deutschland hat ein wesentlich dünneres Netz, und manche dieser Shops sind des Namens kaum würdig…
In Madrid gibt es die Calle de la Luna, an der gleich vier Läden nebeneinander liegen. Der feuchte Traum des Bildgeschichtenliebhabers! Danach schwirrt einem der Kopf und man ist elektrisiert.
Natürlich findet man dort den ganzen Superheldenkrempel in spanischer Übersetzung, aber auch sämtliche Klassiker der frankobelgischen Comickultur. Sowie eine nicht zu unterschätzende spanische Eigenproduktion. Spanien ist ein Comicland! Wovon wir wenig mitbekommen, weil wir räumlich und sprachlich eine Ecke voneinander entfernt sind. Zudem beherrscht fast kein Spanier das global gebräuchliche Englisch, mit dessen Hilfe man sich international austauschen kann. Welch ein Jammer!
Mein Spanisch ist auch nur brockenhaft, aber was ich hier wahrnehme, lässt mir das Herz aufgehen. Nein, es ist Neid! Der pure, grüne, heiße Neid! Schön aufgemachte, günstig angebotene „Integral“-Ausgaben bekannter und (leider, weil spanisch) unbekannter Serien lauern in jedem Regal - nur ein Beispiel: der „El Cid“ von Palacios, den wir auf Deutsch nach wie vor vermissen. Hier steht er, fett und komplett.
Kurz ein paar Anmerkungen zur spanischen Comichistorie, ehe ich den Rest dieses Berichts mit einer Hymne auf ein Magazin enden möchte:
Mit dem Tod Francos zum Jahresende 1975 fällt die staatliche Zensur (z.B. ein Verbot von Superhelden aus dem Jahr 1964!), der spanische Comic beginnt erwachsen zu werden und explodiert in farbenfrohester Produktion!
Man möchte fast sagen UNZÄHLIGE Anthologiehefte für Serien (so etwas wie ZACK! bei uns oder METAL HURLANT in Frankreich) schießen wie Pilze aus dem Boden und präsentieren ein atemberaubendes Angebot nationaler und internationaler Künstler: El Víbora, TBO, Cimoc, Makoki, Madriz, Cairo, TMEO, Sargento Kirk, Rambla und Totem.
Es existieren auch diverse (teils lokale) Comicmessen oder –Festivals, meiner Zählung nach neun an der Zahl, das bekannteste der „Salón Internacional del Cómic de Barcelona“ (seit 1981). Auch sekundär wird am Thema geforscht, es gibt einige Fachliteratur über spanische Comics sowie ein gewaltiges, mehrbändiges Kompendium über alle Genres hinweg („Del tebeo al manga – una historia de los comics“).
Was wir Deutschen an spanischen Comics kennen, ist CLEVER & SMART.
Und das bis zum Erbrechen. Nur Insider haben (neben seinem bereits erwähnten „El Cid“ die Westernserien von Palacios wahrgenommen, „Manos Kelly“ und „Mac Coy“). Spanische Comiczeichner gibt es wie Sand am Meer (und Spanien hat viel Meer!), uns bekannt sind aber nur die Giganten wie Esteban Maroto, Carlos Giménez, Enric Sió, Ramon Torrents oder Miguelanxo Prado.
Erwähnenswert (und höchst produktiv) ist da noch Jordi Bernet, der mit „Torpedo 1936“ einen Longseller schuf, spannend auch seine „Serie Negra“. Und der international erfolgreiche anthropomorphe Tiercomic „Blacksad“ (den ich immer für französisch gehalten habe, weil zunächst bei Dargaud publiziert) ist spanischen Ursprungs (gezeichnet von Juanjo Guarnido).
Momentan können wir hier auf COMICOSKOP nur Stichproben und Beobachtungen anbieten, möchte aber schließen mit der angekündigten Hymne auf ein ganz
besonderes Heft, das seit 1977 jede Woche erscheint – und es mittlerweile auf bald 1.900 Ausgaben gebracht hat: „El Jueves“!
„Der Donnerstag“ erscheint spaßigerweise jeden Mittwoch und ist am ehesten der deutschen TITANIC vergleichbar.
„El Jueves“ hat ein Konzept, das ich für genial halte: Tagesaktuelle Zeitkritik verpackt in Textspäße, Comicspäße, Fotomontagespäße und
Cartoonspäße. Der kleinen Rumpfredaktion in Barcelona arbeiten mindestens zwei Dutzend Kreative aus dem ganzen Land zu, jeder Beitrag ist beschränkt auf eine Seite (manchmal auch zwei). Auf den
68 Seiten kredenzt man also wöchentlich ein köstliches Häppchen-Büffet!
Wahrscheinlich kann man diese Zeitschrift auch gut mit „Charlie Hebdo“ vergleichen, aber „El Jueves“ ist bunt, knallig, vielschichtig, auch sexy.
Übrigens sind sämtliche Beiträge des Magazins im Funny-Look gehalten, was ironische Distanz zu den Themen schafft. Man freut sich auf wiederkehrende Features und Serien, die (dem Zeitgeist gemäß
eingerichtet werden) und dann über Monate oder gar Jahre laufen.
„Los Ilegales“ beschäftigt sich mit den Schikanen, die Einwanderer zu erdulden haben.
Die Nerd-Kultur wird mit „Federik Freak“ abgedeckt, „Pablo Arkada“ zeigt uns den Versuch eines radikalen Lebens als Anarchist.
Sport, Gesundheit und Lifestyle werden von „Jano in corpore sano“ auf die Schippe genommen, die Arbeitswelt in ihren aktuellen Auswüchsen schildern die Strips „Zombie Life“ und „Horario de oficina“.
Partnerschaft und Sexualität werden veralbert mit „Custodia compartida“, „Misterios del sexo“, „Coitus Imperfectus“ oder „Pornopedia“.
Fester Bestandteil von „El Jueves“ sind die Abenteuer der Prostituierten „Clara… de Noche“ (im Funny-Stil illustriert vom oben erwähnten Pin-Up-Meister Jordi Bernet), die mal reiner Porno, mal Zeitspiegel der Gesellschaft sind.
Zuguterletzt lebt das Magazin auch von Prominenten-Verspottung, dargeboten durch Serien wie „24 horas con…“ (ein fiktives Tagebuch) sowie die Königshaus-Soap „Borbón“ (höchst respektlos die Familie um Juan Carlos karikierend). Angemerkt sei hier, dass „El Jueves“ das erste Presseorgan war, das es wagte, sich über die Monarchie lustig zu machen. Aus vollen Rohren haben die Macher den Royalismus spottreif geschossen.
Fast vergessen habe ich tagesaktuelle Demokratiesatire wie „Moncloa Palace“, die mit erfundenen Insiderberichten aus dem Regierungssitz aufwartet.
Äußerst vielseitig illustrieren uns unbekannte Zeichner mit Namen wie Manel Fontdevila, Bernal, Igor, Ruben Fdez., Ricardo Peregrina, JotaJota, Paco Sordo, Julio A. Serrano und
Guille.
Nicht mehr im Heft zu finden sind die nach heutigen Maßstäben bodenlos unkorrekte Dschungelserie „Kafre“, die einen weißen Missionar im Ringen mit dummen Eingeborenen in vorzeitigstem Afrika schildert.
Sowie die Possen der beiden Provinzproleten „Ortega y Pacheco“, die zerstörerisch alles aufs Korn nehmen, was gerade der Hype in Spanien ist. Und damit sind wir beim Schöpfer dieser Serie, dem irren Pedro Vera.
Im Interview gesteht Vera, von Daniel Clowes beeinflusst zu sein (was man deutlich sieht!), ich aber sehe noch jemand anderen in seinen Seiten – den fast vergessenen US-amerikanischen Undergroundzeichner Kim Deitch. Dessen holzschnittartige, super-oberflächige, steif wirkende Abstraktion ist genau das Mittel, mit dem auch Pablo Vera operiert.
Vera gestaltet seit einigen Jahren die Reihe „Ranciofacts“, in der er nurmehr illustratorisch mit Textkästen arbeitet. Völlig verloren geht dabei sein schwungvoll-krankes „storytelling“, das sich auf den Einzelseiten oft kryptisch entfaltet. Brachiale Fieberträume jenseits aller Geschmacksgrenzen sind das Markenzeichen seines Meisterwerks „Ortega y Pacheco“, von dem ich hier drei Kostproben zeige.
Ich habe nicht wirklich eine Ahnung, worum es hier geht (meist überzogene Gewaltfantasien gegenüber Persönlichkeiten des spanischen Lebens) – aber ich find’s zum Niederknien! In der Richtung hat Jean-Marc Reiser gearbeitet, es ist auch der „Spirit“ des originalen US-Undergrounds eines S. Clay Wilson, Spain, Kim Deitch oder phasenweise selbst Crumb.
Mir fehlt sowas heutzutage in Deutschland! Traut sich keiner mehr. Niemand packt mehr den grafischen Vorschlaghammer aus und haut dem Publikum mal auf die Zwölf!
In den 80er Jahren hat die TITANIC das ab und zu hinbekommen…
Gut, Vera selber hat sich inzwischen offenbar auch auf Harmlosigkeiten und Karikaturen zurückgezogen, aber es ist mir ein Bedürfnis, diese Bilder mal zu präsentieren. Wo ist die subversive Sprengkraft dieses herrlichen Mediums hin verschwunden?!
Manchmal hab ich das Gefühl, die fortschreitende Globalisierung schaltet auch unsere Hirne gleich. Ein weltumspannender Mainstream diktiert in allen Medien maximale Verständlichkeit und minimalen Widerstand. Ich will Comickunst, die mich verblüfft, die mich überrascht, die mich verwirrt.
Das schaffen die Spanier immerhin, zumindest mit „El Jueves“! Aber ich bin nur ein alter Stinkstiefel aus dem letzten Jahrhundert, der nach Kunst verlangt, um unseren elenden Alltag zu transzendieren.
Allerdings hab ich da neulich was entdeckt…
Mein nächster Artikel handelt deshalb von wahrlich abgefahrener Bilderkunst aus Schweden. Bis dahin grüßt mit herzlichem „Verweigert euch!“ COMICOSKOP-Redakteur Tillmann Courth.