Der Comic – besser gesagt, da sie alle Formen subsumiert, die Bildgeschichte ist eine eigenständige Kunstform, die durch die autonome statische
Bildfolge (mit wie ohne Text) definiert wird. Konstitutiv ist, dass diese Bildfolge narrativ ist. Wie passt das zu „abstrakt“? Tatsächlich ist unter dem Begriff „Abstrakte Comcis“ ein Sammelband
erschienen (Molotiu 2009). Der Verein Kulturnetz Bremen hat 2015 eine Ausstellung zu Abstrakten Comics veranstaltet, die auch in Mannheim 2016 zu sehen war. Und 2018 kam eine Anthologie
abstrakter Comics heraus, die den Charakter eines Künstlerbuches hat (De tout Bois.,2018). Es gibt also zahlreiche Comics, die als „abstrakt“ verstanden werden.
Der Begriff „abstrakt“ wird seit der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts bis heute meist synonym mit „ungegenständlich“ verstanden. Die abstrakte Kunst, schrieb Clement Greenberg, befreite sich „von der Nachahmung und damit auch von der Literatur“ (Greenberg 1940, zit. 1998, 684) und wurde autonom. Sie arbeitet – ob amorph oder konkret geometrisch – mit nicht-ikonischen Zeichnen. Zeichen, die nicht etwas repräsentieren, sondern auf sich selbst verweisen. Zwar sind die Kreisformen Delaunays von der Sonnenscheibe inspiriert, aber sie sind kein Abbild der Sonne, sondern lichtdurchflutete Traumvisionen, eine poetische und musikalische Sprache, wie Appollinaire ausführte, als er 1912 in der Berliner Galerie Sturm eine Delaunay-Ausstellung einführte. Er prägte den Begriff „Orphismus“, der darauf verweist, dass diese Kunst autonom ist wie die Musik, die auch für sich selbst steht. („Sinfonische Dichtungen“ wie die Moldau sind eine musikalische Besonderheit.)
Die „Autonomie“ farblich-formaler Komposition gilt für amorphe Malerei (z. B. von Fred Thieler) wie für geometrisch-konkrete, z. B. von Mondrian. Mondrian stellt mit der Verwendung des Begriffs „Komposition“ im Titel mancher Werke auch den Bezug zur autonomen Musik her. Die abstrakte Kunst distanziert sich von der Narration.
Pablo Picasso stellte allerdings fest: „Es gibt keine abstrakte Kunst. Man muss immer mit etwas anfangen. Nachher kann man alle Spuren der Wirklichkeit entfernen. Dann besteht ohnehin keine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges inzwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat.“ (Picasso 1935, zit. 1985, 36f) Seine Stier-Folge, die vom realitätsnahen Abbild bis zur reduziert-vereinfachten Darstellung reicht, veranschaulicht das.
Zahlreiche Werke der abstrakten Kunst lassen erkennen, dass sie auf Anregungen aus der Natur fußen (z. B. Wassily Kandinsky: Improvisation 3, 1909).
Anne Vieten z. B. bezieht sich in ihrer Malerei auf das, was ohne Hilfsmittel gar nicht sichtbar ist: Lungenbläschen einer Maus, durch ein Rasterelektronenmikroskop gesehen.
Theo van Doesburg, Mitbegründer der abstrakt-konkreten Kunstrichtung De Stijl (1917), demonstrierte am Beispiel “Kuh”, dass auch seinem konkret-abstrakten Bild ein gegenständliches Motiv zugrunde liegt, das sich dann freilich weit vom Vorbild entfernt.
In seiner Naturalis historia erzählt Plinius die Legende vom Ursprung der Malerei, eigentlich der Zeichenkunst. Als ein Jüngling in den Krieg ziehen musste, bemerkte seine Verlobte beim Abschied seinen Schatten an der Wand. Sie nahm ein Stück Kohle und zeichnete den Umriss des Profils nach, um ein Andenken an ihn zu bewahren.
In der textfreien Bildgeschichte König Kohle wird das aufgegriffen. Der Protagonist wird durch den Schatten angeregt, diesen als Zeichnung festzuhalten. Auch wenn der Porträtierte sich dann nichts daraus macht, der Zeichner lässt sich nicht entmutigen und schafft ein Bild, das über den Schattenriss hinausgeht und – narrativ - seine Erfahrungen visuell festhält. Das Beispiel macht bewusst, dass letztlich jede Zeichnung als Repräsentant eines Gemeinten abstrakt ist. Jedes vom Menschen geschaffene Bild kann immer nur aus drei Quellen schöpfen: aus der Natur, aus dem Reservat vorliegender Bilder und aus der Erfindungskraft des Künstlers. Dabei korrespondiert Fantasie immer mit Erfahrungen. So hat 1936 der amerikanische Kunstwissenschaftler Alfred Barr das Abstrakte auch relativiert:
„Das Verb abstrahieren bedeutet abziehen oder wegziehen. Aber das Substantiv Abstraktion bedeutet etwas, das bereits ab- oder weggezogen ist -
derart, dass es wie eine geometrische Figur oder eine amorphe Silhouette womöglich gar keine erkennbare Beziehung zur konkreten Realität mehr aufweist. Bei der Anwendung des Adjektivs »abstrakt«
auf Werke der bildenden Kunst darf also mit einem gewissen Bedeutungsspielraum gerechnet werden.“ (Barr 1936, zit. 1998, 451).
Abstrahierte Kunst im Sinne von Vereinfachung, Konzentrierung auf das zeichenhaft Wesentliche, bleibt immer noch gegenständlich. Und so finden sich
auch zahlreiche Bildgeschichten, die mit solchen Elementen arbeiten. Manche Comic-Zeichner nutzen expressive, andere piktogramm-artige Formen. Damit lassen sich verfolgbare Geschichten erzählen,
da der ikonische Bezug gewahrt bleibt. „Abstrakte Comics“, wie sie eingangs angesprochen wurden, meinen nun allerdings kein „Abstrahieren“, sondern „Abstraktion“ im Sinne von nicht-ikonischen
Bildelementen.
Im erwähnten Comic König Kohle kommt so etwas vor. Ein Panel mit Bildelementen, die irritieren, da sie nicht ikonisch zu deuten sind und für sich stehen. Doch im Kontext entpuppt sich das scheinbar abstrakte Element als erklärbares Zeichen: Qualmwolken, die aus einer Pfeife empor steigen. Das findet sich in ähnlicher Weise in einer Reihe von Comics. Kreisformen, die zunächst an konkrete Kunst erinnern, entpuppen sich bei Hugo Pratt (Corto Maltese. Argentinischer Tango. Hamburg: Carlsen 1988, 5) als Billardkugeln.
Amorphe Elemente, wie im Comic von Musturi, sind dann im Kontext gegenständlich zu deuten, als Zeichen für bewaldete Landschaft, den Handlungsort. Wir haben es hier mit einem grafischen Spiel zu tun, das mit Irritation und erklärender Überraschung spielt.
Das Verfahren und die Rezeptionsanforderung erinnern an Drudel (Price 1967). Dem Betrachter wird etwas präsentiert, das auf den ersten Blick nicht eindeutig ist. Erst eine sprachliche Erklärung aktiviert die visuelle Fantasie und es wirkt witzig, wenn man diese Deutung in der Zeichnung bestätigend erkennt – ein Spiel, wie in den Comicbeispielen, mit Ausschnitten und offener Mehrdeutigkeit.
Abstrakte, nicht abstrahierte Kunst, ob nun amorph oder konkret-geometrisch, will dagegen autonom sein, verweist auf sich selbst, ist nicht Abbild von Welt, sondern präsentiert ihre eigene Realität. In einer Episode des klassischen Comicstrips Gasoline Alley besuchen die Protagonisten Walt und Skeezix ein Museum mit moderner Kunst. Auf dem anschließenden Spaziergang greift Walt das Kunsterlebnis auf, erklärt, wie bedeutend Kreisformen sind, bis sich die beiden Akteure schließlich selbst in der orphistischen Formenwelt Delaunays befinden. Und darauf zielt die abstrakte Kunst: Betrachter mit einer neuen Rezeptionsweise zu konfrontieren, um eine eigenständige, keine nachgeahmte Welt im Bildangebot zu entdecken.
Den gleichen Ansatz finden wir hier. Ulf K. zitiert in den Erich Ohser nachempfundenen Neuen Geschichten von Vater und Sohn zunächst
bekannte Werke des Kubismus (Gris, Picasso), Futurismus (Boccioni) wie der konkreten Kunst (van Doesburg), um dann im Schlusspanel Vater und Sohn beim Verlassen des Museums selbst in dieses
spezielle grafische Umfeld zu positionieren.
Und Duhoo lässt einen glücklichen Picasso in seine erfundene abstrakt-kubistische Bildwelt schweben.
Die Bildgeschichte von Jesse Jacobs macht das Überwechseln in eine andere Welt zum Thema. Zwei Mädchen tauchen in eine fremde Erlebniswelt und ihre visuelle Eigenart ein, wobei sie sich selbst verwandeln und anpassen – und so zwischen den Welten hin und her switchen.
Die Karikaturen von Garvens und Reinhard machen die Eigenrealität der abstrakten Kunstwerke anschaulich. Zugleich decken sie auf, dass kritische
Ablehnung dieser Kunst meist erfolgt, weil Betrachter davon ausgehen, ihre eigene Sicht und bisherige Welterfahrung im Bild wieder zu finden – und das nicht gelingt.
In den eingangs gezeigten Sammelwerken finden sich nun zahlreiche Beispiele, die mit nicht-ikonischen Elementen
arbeiten.
Zum Teil korrespondieren sie erkennbar mit Kunstwerken, wie das Beispiel von Horemis zeigt, das recht eindeutig u.a. von Ludwigs Arbeiten angeregt wurde. Zur Bildgeschichte macht es die Bildfolge. Deren Narration bezieht sich auf den Prozess – nicht auf einen inhaltlich zu deutenden, sondern auf den Prozess verfolgbarer Veränderung.
Zum ersten Mal bin ich solchen abstrakten Bildgeschichten begegnet, als ich 1989 ein Heft für Kunstlehrer zum Thema Bildgeschichte herausbrachte und ein Kollege mir Schülerarbeiten einreichte, die abstrakt waren (K+U 137/1989, 31). Der Blick des Betrachters wird von Panel zu Panel geleitet; er erfasst in den Veränderungen einen Prozess, der kein inhaltliches, wohl aber ein formales Geschehen ist, eine Metamorphose. Der Unterricht hatte seine Reverenz in der Anregung einer Serigraphie-Reihe von Anton Stankowski, die in vierzehn Stationen spielerisch mit Kreuzformen experimentiert (Edition Domberger, 1980). Erst in der Reihe, in der Bildfolge, die die Veränderungen wahrnehmbar macht, zeigt sich das künstlerische Konzept.
Während in zahlreichen Comics Bewegung resp. der Verlauf der Bewegung als nachverfolgbare Spur per speed-line dargestellt wird, aber immer im
ikonischen Kontext eingebunden ist, haben z. B. die italienischen Futuristen Bilder geschaffen, bei denen der Bewegungsprozess nur durch Farbspuren rein abstrakt dargestellt wird. Beispiele sind
das Fahnenschwenken (Giacomo Balla: Form schreit: „Es lebe Italien“, 1915) oder die Bewegung eines Pferdes (Gino Galli: Pferd + Trab + Sturz, o. J).
Doch es gibt auch Comic-Beispiele, die den Bewegungsprozess autonom zeigen. Der Bezug zum Action-Painting Jackson Pollocks ist
offensichtlich; doch während seine Werke den Arbeitsprozess in den sich überdeckenden Spuren der Farbwege in einem Bild zeigen, splitten die Comics den zeitlichen Prozess in eine Bildfolge auf.
Das erinnert an den abstrakten oder absoluten Film der 1920er Jahre. Die experimentellen Filme von Oskar Fischinger, Viking Eggeling oder Hans Richter waren keine Handlungsfilme, sondern wirkten
allein durch rhythmisierende Strukturierung von Farbe und abstrakten Formen, also durch filmische Bewegung und Veränderung. Anders als der Film besteht die Bildgeschichte aus statischen Bildern.
Den zeitlichen Prozess, den der Film durch die miteinander verschmelzenden Einzelbilder vorgibt, muss der Betrachter der Bildgeschichte durch die Verbindung und Verlebendigung im Kopf selbst
leisten.
So bieten abstrakte Comics ein innovatives Seherlebnis. Sie fordern den Betrachter auf, sich ganz in diese Welt der Formen und Farben zu begeben und spielerisch von Panel zu Panel den Prozess mit zu verfolgen und zu erleben.
Wie die Beispiele zeigen, sind sie Experimentierfelder, die mal betont grafisch, mal malerisch, mit wie ohne Farbe in neue originäre Formwelten
einladen.
Stets aber wird der Betrachter animiert, von Panel zu Panel in vertrauter Leserichtung zu wandern, was durch den ablesbaren Prozess des Spiels mit Formveränderungen wie Formredundanzen zu einer Art Zeitreise, einer formal-ästhetischen, emotionalen Erzählung wird.
Manche Werke, spielen dabei parodistisch mit der vertrauten Form und Erzählweise der Comics, mit Sprechblase und Panellayout. Die Beispiele erfüllen durchaus die eingangs genannte Definition der autonomen, statischen narrativen Bildfolge. Wie der Begriff „Bildgeschichte“ (klarer als der pars-pro-toto-Begriff „Comic“) fordert, basieren sie auf autonomen Bildern. Im Begriff „Geschichte“ steckt etymologisch das Wort „geschichtet“, was auf eine Baustein für Baustein geschichtete Folge verweist. Und das bieten die Beispiele auch: eine Bildfolge, die der Betrachter als Einheit, als zeitlich verlaufenden Prozess wahrnimmt. Versteht man „narrativ“ in dem Sinne, dass eine Geschichte erzählt wird, so kann man auch dieses Kriterium als erfüllt ansehen. Dann, wenn man „Geschichte“ im Sinne von Geschehen versteht. Denn ein „Geschehen“ bezieht sich nicht nur auf eine inhaltliche Handlung, sondern auch auf formale Veränderungen. Und einen in der Zeit zu verstehenden Veränderungsprozess präsentieren die Panelfolgen. Dennoch: Das Problem der abstrakten Kunst zeigt sich im Rezeptionsprozess. Der Mensch ist seit Urzeiten programmiert, das Sichtbare zu deuten, aus Spuren, Farbe, Form und Materialität Erkenntnisse zu gewinnen, die dem Jäger und Sammler das Überleben sicherten. Automatisch neigen wir dazu, ein Bildangebot inhaltlich oder auch nur emotional zu belegen. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der abstrakten Kunst, die solche nicht steuerbaren Assoziationen verhindern wollten, haben ihren Bildern Nummern oder – wie Emil Schumacher – Fantasienamen oder auch gar keine Titel gegeben. Mondrian wählte, wie schon gesagt, einen Begriff aus der Musik. Ihm geht es aber nicht alleine um ein neues Seherlebnis. Als Mitglied der Theosophischen Gesellschaft verstand er seine Kunst als esoterischen Weg zu einer höheren Erkenntnis. Sein „Neo-Plastizismus ist eine reine theosophische Kunst“, schrieb er. Und erklärte: „Kunst [soll] der unmittelbare Ausdruck des Universellen in uns sein, das heißt die exakte Erscheinung außerhalb unseres Wesens. [… Die neue Gestaltung in der Malerei] ist eine Komposition farbiger Rechtecke, welche die tiefste Realität ausdrücken. […] Die neue Gestaltung bringt ihre Verhältnisse in ästhetisches Gleichgewicht und bildet dadurch die neue Harmonie.“ (Mondrian 1920, zit. 1989, 384ff.)
Das heißt aber, dass hinter dieser Kunst ein Konzept steht, dessen Kenntnis zum Verständnis nötig ist, und das heißt wiederum: das Werk steht letztlich nicht für sich, sondern in einem Kontext. Mondrian legte den schriftlich vor. Mit diesem Wissen bekommt sein abstraktes Gemälde die Qualität einer visuellen Metapher.
Zur visuellen Metapher wird auch diese Panelfolge aus der Kurzgeschichte von Muñoz/Sampayo, wenn man sie nicht isoliert, sondern im Kontext der
Folgeseite sieht. Die bindet sie in eine Sequenz ein, die einen im Bus eingeschlafenen und träumenden Mann zeigt. Die abstrakten Panel verweisen in diesem Zusammenhang offensichtlich auf den
Vorgang der Zeugung und werden zur visuellen Metapher.
Auch diese abstrakte Bildfolge von Joan Miro gewinnt durch ihren Titel und den damit verbundenen historischen Kontext die Qualität einer
metaphorischen Bildgeschichte. Es geht um einen jungen politischen Aktivisten (Salvador Puig Antic), den Franco exekutieren ließ. Assoziativ verweist die Bildfolge auf seine Gefangennahme, Marter
und Tod. Die Linie des Lebens, wie Miro sie gedeutet wissen will, endet abrupt am Tag seines Todes.
Diese drei Bilder Twomblys sind ebenfalls als Narration zu verstehen, als abstrakte Bildgeschichte. Der Titel Hero und Leander verweist auf die
griechische Mythologie. Leander konnte die Geliebte, eine Priesterin der Aphrodite, nur heimlich besuchen. Der Hellespont trennte das Liebespaar. So durchschwamm er nächtlich das Wasser und
orientierte sich an einem Licht, das Hero entzündete. Doch eines Nachts löschte ein Sturm das Licht, Leander verirrte sich und ertrank. In der Bildfolge spiegelt sich das dramatische Geschehen in
den Malspuren, die inhaltlich-metaphorisch zu deuten sind. Twombly hilft der assoziierenden Fantasie durch Text auf einer vierten Tafel und vertraut auf das mythologische Wissen der
Betrachter.
Noch einmal zurück zu Mondrian. Abstrakte Werke sind also oft nur durch Kontextwissen im Sinne des Künstlers zu verstehen. Fehlt dem Betrachter das
Kontext-Wissen, so kann das Bildangebot nur zu leicht zu einem eher belanglosen, rein dekorativen Muster werden. Was dann die Warenwelt auch verkaufsfördernd für Dinge aller Art
einsetzt.
In seinem Buch Das Unbekannte in der Kunst schrieb Willi Baumeister: „Dem Betrachter ist folgender Weg zu empfehlen: er sieht vom Titel und vom
Motivlich-Gegenständlichen, das er erkennt oder zu erkennen glaubt, ab.[…] Er verweist beides total aus dem Gefühlsbereich wie auch das Suchen nach gegenständlichen Anhaltspunkten, die er, wenn
auch versteckt, doch noch vielleicht zu entdecken hofft. Er soll nicht denkerisch reflektieren, sondern sich den Empfindungen allein öffnen.“ (Baumeister 1947, zit. 1960, 31).
Das klappt aber nicht so leicht. Nicht nur Kinder, wie hier Hank Ketchams Dennis im Comicstrip, drängt sich die Frage auf, was das Bild wohl darstellt. Daher geben manche Künstlerinnen und Künstler ihren Arbeiten ganz bewusst Titel, die, korrespondierend mit Farbe und Form, auf Inhalte verweisen, assoziativ gegenständlich, emotional, narrativ zu deuten sind und so die Fantasie des Betrachters anregen. So nennt Helene Frankenthaler ein Gemälde Blaue Raupe (1961), weil einer der amorphen Flecken formal einer Raupe ähnelt. Franz Marc präzisiert das Gegenüber der roten und schwarzen Farbelemente (die an Adler erinnern) als Kämpfende Formen (1914). Hann Trier wiederum weist dem Betrachter mit dem Titel Der Frühling (1960) einen Deutungsweg, um das lichte Gewebe seines zarten hellen Farbspiels emotional mitempfinden zu können.
Arthur Danto hat mit einem berühmten Gedankenspiel deutlich machen wollen, dass sechs Bilder, sechs rote Rechtecke, die in Form und Farbe äußerlich absolut gleich aussehen, doch verschieden sind. Jedes hat seine eigene Bedeutung und ist damit ein eigenes Werk.
Das erste ist ein Gemälde der Israeliten, die das Rote Meer durchquerten, zu dem der Künstler erklärte: „Die Israeliten waren schon vorbeigezogen,
und die Ägypter waren ertrunken.“ Sören Kierkegaard, der, so Danto, das Bild beschrieben hat, meinte dazu, das Bild gleiche dem Ergebnis seines Lebens, spiegele seine ganze geistige Unruhe, seine
innere Suche nach christlichem Sinn, die fortwährende Polemik einer gequälten Seele. Dem folgend hat mit Bild zwei ein von Danto erdachter Porträtist mit „ungeheurem psychologischem
Einfühlungsvermögen“ ein Werk mit dem Titel „Kierkegaards Stimmung“ geschaffen. Bild drei ist ein Stück Moskauer Landschaft mit dem Titel „Roter Platz“, während Bild vier, das zufällig denselben
Titel trägt, als minimalistisches Musterbeispiel geometrischer Kunst gelten kann. Das fünfte Bild heißt „Nirwana“ und ist ein metaphysisches Gemälde, mit dem der Künstler zeigen will, dass die
Ordnungen des Nirwana und des Samsara identisch sind und dass die Samsara-Welt (der endlose Kreislauf von Tod und Wiedergeburt) von ihren Verächtern „die Rote Wüste“ genannt wird. Das sechste
Bild schließlich, ist das Stillleben eines Matisse-Schülers und trägt den Titel „Rotes Tischtuch“. (Danto 1966, 17f.) Letztlich hat Danto der Autonomie der abstrakten Kunst einen Bärendienst
erwiesen. Denn er macht deutlich, dass vor allem die gegenständlich-narrativen Assoziationen die Gemälde unterscheidbar wie begreiflich machen. Doch nicht der Betrachter liest das aus den
Bildangeboten ab, sondern erst der sprachliche Kontext, der somit zum Werk gehört, vermittelt diese Orientierung.
So gewinnt auch Armin Göhringers amorph-abstrakte Bildfolge Der Drohn, präsentiert als blätterbares wie auseinander zu ziehendes
Leporello, die Qualität einer narrativen Bildgeschichte, wenn man sie auf den Text der auf der Rückseite abgedruckten Fabel bezieht. Wie eine beiliegende Bild-Lese-Anleitung vorgibt, soll der
Betrachter Farben und Linien den Dingen und Personen der Fabel zuordnen. So steht z. B. Rot für die Liebe, Gelb für die Königin, Blau für die Macht. Es gibt zudem eine durch ausgeschnittene
Felder sichtbare Schwarz-Weiß-Grau-Ebene, die sich auf die Einschränkung des Individuellen bezieht. Die Farbebene bildet den Gegenpol, die eigene Suche nach dem Glück. Farbe, Linien und
Strukturen treten miteinander in Aktion. Symbolisch, emotional, bewegt durch Farbspuren wird das Geschehen umgesetzt. Die Seh-Anleitung verspricht: Lässt sich der Betrachter darauf ein, „So lässt
sich in Farben und Linien nachvollziehen, was der Leser zuvor im Text erfahren hat.“
Schon 1916 hat Olga Rosanowa, bedeutende Künstlerin des russischen Suprematismus, aus farbigen Papieren eine abstrakt-konkrete Bildfolge zusammengestellt. Jedem Blatt hat sie einen Untertitel gegeben:
1 Kampf von Avenirist mit dem Ozean/ 2 Kampf des Mars mit dem Skorpion/3 Explosion eines Koffers/4 Kampf mit dem Äquator/5 Verrat/6 Die Zerstörung der Gärten/7 Kampf zwischen Indien und Europa/8 Eine schwere Waffe/9 Deutschlands Eitelkeit/10 Deutschlands Untergang/11 Gebet um den Sieg/12 Militärstaat .
In Kombination von Untertext und Bild vermag der Betrachter assoziativ, weiterdenkend und verbindend aus dem Gezeigten eine Geschichte zu
konstruieren.
Auch El Lissitzky, Mitbegründer des Konstruktivismus, dessen Werk starken Einfluss auf die De-Stijl-Bewegung wie auch auf das Bauhaus hatte, kreierte 1920 eine abstrakt-konkrete Bildgeschichte, Die Geschichte von den zwei Quadraten. Auch hier helfen Untertexte, die inhaltlich-metaphorische Narration der sechs Bilder deuten zu können:
Das sind die zwei Quadrate/ die fliegen auf die Erde von weit her/und sehen schwarzen Sturm./ Ein Schlag und alles fliegt auseinander./ Und auf das Schwarze baut sich das Rote./Hier ist das Ende – weiter.
Keine politische Propaganda, sondern ein unterhaltsames Spiel für Kinder hat Manfred Bofinger geschaffen. Auch er nutzt für seine Bildgeschichte konkrete Elemente wie Kreis, Rechteck und Dreieck. Er kombiniert sie so miteinander, dass sie ein inhaltlich zu deutendes Spiel ergeben. Spiel ist hier wörtlich zu nehmen: ein dem Buch beigelegter Bogen, aus dem die Elemente herauszudrücken sind, soll Kindern dazu dienen, die konkreten Elemente nach eigener Fantasie miteinander zu kombinieren. Den narrativen Bezug liefern die den Elementen zugewiesenen Namen, die sie damit zu Akteuren machen.
Mit diesem Verfahren arbeitete auch die Schweizer Künstlerin Warja Lavater. Zum Abschluss sei ein Ausschnitt aus Wilhelm Tell von 1962 gezeigt. Lavater stellt ihren Bildgeschichten, die wie Göhringers Drohn als Leporello publiziert sind und damit sowohl geblättert als auch – auseinandergezogen - als Streifen – wie der Teppich von Bayeux - betrachtet werden können, eine Legende voran. Darin werden die konkreten Elemente, die nach Form und Farbe unterschieden sind, mit Bedeutung belegt. Z. B. meint der blaue große Kreis: Wilhelm Tell, der kleine blaue Kreis: seinen Sohn etc.
So kann der Betrachter durch die Zuordnung wie durch die Platzierung der Elemente zueinander die Narration kombinierend erschließen: Hier wird die berühmte Apfelschuss-Szene erzählt.
Das Spiel der abstrakten Bildgeschichten, abstrakt-konkret oder amorph, die ohne Text auf einer metamorphosen Abfolge basieren, mag die Fantasie anregen, neue Sehweisen inspirieren. Wenn die Folge aber nicht die Kraft hat, den Betrachter zu motivieren, sie auch inhaltlich (als emotionales Ereignis oder auch metaphorisch) narrativ zu deuten, wächst die Gefahr, dass sie auf Dauer als bloße Muster wahrgenommen werden. Eingebunden in einen Kontext – in der Regel durch beigefügten (Unter-)Text oder eine zuweisende Legende vermittelt – bleibt das narrative Element, das Bildgeschichten bestimmt, erfassbar und animiert den Betrachter, die Bildfolge in aktiv-deutender Rezeption, emotional, intuitiv wie auch logisch deutend, zu verstehen und zu genießen.
DIETRICH GRÜNEWALD
Primär
Anthologie. De tout Bois. Edition Adverse 2018
Arrhenius, Lars: The Man without Qualities, 2001. C-Print-Serie, in: Stephanie Rosenthal (Hg.): Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst. Köln: DuMont 2002, 86f.
Badger, Mark: Kung Fu, 1980, in: Molotiu 2009, o.p.
Bleck, Andy: o.T., 2009, in: Molotiu 2009, o.p.
Bofinger, Manfred: Graf Tüpo. Lina Tschornaja und die anderen. Berlin: Sisyphos-Presse 1991
Boyan Drenec: o.T., in: Menu 1999, 453
Brubaker, Elijah: o.T., in: Molotiu 2009, o.p.
Camp, Casey: Eggs, Eggs, Eggs, in: Molotiu 2009, o.p.
Chailleux, Gauillaume: o.T., 2018, in: De tout Bois, 2018, 99
Cheyrol, Thierry: o.T., in: De tout Bois, 2018, 25
Civaschi, Matteo/Milesi, Gianmarco: Der ganze Film in 5 Sekunden. 150 große Kinomomente von Psycho bis Avatar. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2014, 6. Aufl. 2017, 116/117: Moulin-Rouge (nach dem Film von Baz Luhrman 2001)
Crumb, Robert: Ultra Super Modernistic, Zap-Comix 1968, in: Molotiu 2009, o.p
De tout Bois. Edition Adverse 2018
Duhoo, Jean-Yves: o. T., in: Menu1999, 467
Garvens, Oskar: Kunstbetrachtung. So’n Kitsch! So’n Blödsinn! Kladderadatsch 3/1928, in: Friedrich Bohne: Der Deutsche in seiner Karikatur. Stuttgart: Bassermann 1963, 77
Göhringer, Armin: Der Drohn. Zell: GNZ Autorenverlag 1994
Horemis, Sypros, in: Molotiu 2009 o.p.
Huet, Florian: o.T. 2016 (Ausstellung Zeitraumexit, Mannheim 2016)
Jacobs, Jesse: Crawl Space. Kassel: Rotopol 2017
Jaworski, Janusz: o.T., 2001, in: Molotiu 2009, o.p.
King, Frank: Gasoline Alley, Nashville Banner 10.5.193, in: Alexander Braun/Max Hollein: Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde. Ostfildern: Cantz 2016, 250
Kochalka, James: o.T., in: Molotiu 2009, o.p.
Lavater, Warja: Wilhelm Tell. Foldet Story 1. Basel, Hamburg, Wien: Basilius Press 1962, 2. Aufl. 1966, Neuauflage Zürich: NordSüd 2019
Leif, Aurélien: o.T., in: De tout Bois, 2018, 60
Lizano, Marc/K., Ulf: Neue Geschichten von Vater und Sohn, 2016, Bd. 2. Stuttgart: Panini 2016, 20
Max: König Kohle. Berlin: avant 2019
Menu, Jean-Christoph (Koordination): Comix 2000. L’Association 1999
Musturi, Tommi: Pa Väg med Samuel. Göteborg 2009
Molotiu, Andrei: The Panic, 2006, in: Molotiu 2009, o.p.
Molotiu, Andrei: Abstract Comics. Seattle: Fantagraphic Books 2009
Neuenschwander, Rivane: Zè Carioca, O Mappa da Mina 5/11, 2006
Pearson, Anders: O.T., in: Molotiu 2009, o.p.
Price, Roger: Des Drudels Kern. München 1967
Reinhardt, Ad: How to look at Cubist Painting, 1946, in: Karl-Ludwig Hoffmann/Christmut Präger (Hg.): Kunst in der Karikatur. AK Kunstverein Mannheim 2003, 16
Swarte, Joost 1980: Modern Art. Frankfurt/M. (Zweitausendeins).
Swarte, Joost 1993: Modern Art. Carlsen Lux-Reihe Bd. 30, Hamburg (Lizenzausgabe der Zweitausendeins-Ausgabe).
Swarte, Joost 2018: Dann kam de Stijl. Zu Besuch im Atelier. Verlag Freies Geistesleben Stuttgart 2018.
Troylloyd: From e-z see, in: Molotiu 2009, o.p.
Sekundär
Bang, Molly: Picture this. How pictures work. San Francisco 2010
Barr, Alfred H.: Kubismus und Abstrakte Kunst, 1936, in: Charles Harrison/Paul Wood(Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Bde. I. Ostfildern-Ruit 1998, 450-452
Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst. Stuttgart 1947, zit. Köln 1960
Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Frankfurt/M. 1996
Greenberg, Clement: Zu einem neuen Laokoon. 1940, in: Charles Harrison/Paul Wood(Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Bde. II.Ostfildern-Ruit 1998, 680-696
Gülker, Bernd A.: Die verzerrte Moderne. Die Karikatur als populäre Kunstkritik in deutschen satirischen Zeitschriften. Münster; Hamburg; London 2001
Hartmann, Karl Heinz: Abstrakte Bildsequenz. In: K+U 137/1989, 31
Mondrian, PIet: Die neue Gestaltung, 1920, in: Harrison/Wood, Bd. I, 384-387
Muñoz/Sampayo: Alack Sinner. Berlin: avant 2019Picasso, Pablo: Denken mit Picasso. Berlin/Weimar 1985
Shadowa, Larissa A.: Suche und Experiment. Russische und sowjetische Kunst 1910 bis 1930. Dresden 1978
Thuge, Tobias: 10 x 10 Reihen zu Gestaltungspraktiken. Etüden zur Anreicherung des bildnerischen Repertoires, in: K+U 409-408/2017, 54-58
Tuchman, Maurice/Freeman, Judi (Hg.): Das Geistige in der Kunst. Stuttgart 1988
Woellner, Marcus: (über Hans Richter; K+U 409-408/2017, 81)
Internet (eingesehen 13.01.2020):
Gaze, Tim: A Quick Introduction to Abstract Comics), s. http://www.actionyes.org/issue10/abstract-comics/gaze/gaze1.html
https://adverse.livre-avenir.org/#de-bois-anthologie-collectif
http://www.actionyes.org/issue10/abstract-comics/gaze/gaze1.html
Dietrich Grünewald, Jahrgang 1947, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Studium Lehramt Deutsch, Kunst, Universität Gießen,
Promotionsstudium Kunstwissenschaft, Germanistik, Promotion 1976, 2. Staatsexamen 1977, Lehrer, 1977 – 1990 Lehrbeauftragter (Bildgeschichte) am Institut für Jugendbuchforschung, Universität
Frankfurt/M., 1978 Wiss. Ass. Universität Dortmund, Institut für Kunst und ihre Didaktik, Habilitation 1980, 1986 apl.-Prof., 1995 Prof. für Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik, Institut für
Kunstwissenschaft, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, ab 1. 4. 2013 pens., 1986 – 1990 Bundesvorsitzender des BDK, Mitherausgeber von Kunst + Unterricht (bis 2013), im Februar 2005
Initiator, Gründungsmitglied und Gründungspräsident der ComFor (deutschen Gesellschaft für Comicforschung), deren 1. Vorsitzender er von 2005 bis 2013 - acht Jahre lang - war (siehe
www.comicgesellschaft.de). Publikationen im Bereich Kunstdidaktik, Kunstwissenschaft, Bildgeschichte, Comicforschung, Karikatur u.a., Herausgeber und Mit-Autor der Schulbuchreihe
Kunst entdecken (Berlin). Entwickelte die Theorie des Prinzips Bildgeschichte. Zahlreiche Publikationen zur Didaktik der Kunst, zu Comics, Karikaturen und Bildergeschichten: U.a. "Wie Kinder Comics lesen: eine Untersuchung zum Prinzip Bildgeschichte, seinem Angebot und seinen
Rezeptionsanforderungen sowie dem diesbezüglichen Lesevermögen und Leseinteresse von Kindern, Frankfurt am Main, 1984;Vom Umgang mit Comics, Berlin 1991;Vom Umgang mit Papiertheater, Berlin
1993;Comics, Tübingen 2000;Politische Karikatur: zwischen Journalismus und Kunst, Weimar 2002, (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics Bochum 2010.Hg. von: Friedrich Schiller: Avanturen
des neuen Telemachs. Eine Bildgeschichte von 1786. Zuletzt erschienen: Loriot und die Zeichenkunst der Ironie (2019), basierend auf dem
dreiteiligen Exklusiv-Beitrag fürs COMICOSKOP.