Der französische Bilderzähler Francois Bourgeon - geboren 1945 - schuf mit seiner Saga "Reisende im Wind" einen Meilenstein des Geschichtscomic-Genres, ja, mehr noch: Seine Serie geriet - 1979 erstmals in Frankreich erschienen (zunächst beim Entdecker-Verlag Glénat - erst im dortigen Magazin "Circus" als Vorabdruck, später als Album, sodann bei Casterman, zuletzt beim Verlag 12 bis und jetzt bei Delcourt), 1981 in Westdeutschland - zur Speerspitze der anspruchsvollen Erwachsenen- und Autorencomic-Welle. Kaum eine Serie symbolisiert jene Comic-Revolution hin zu mehr Alben-Qualität, die sich hierzulande in den 1980ern Bahn brach, besser als Bourgeons Ballade um seine Heldin Isa. Neben Adele Blanc-Sec von Tardi gehörte Bourgeons Isa zudem zu wenigen starken Frauen damals - auch deswegen setzte dieser Abenteuer-Comic der anderen Art in den 1980er Jahren Maßstäbe - und war damals seiner Zeit weit voraus.
Vor zehn Jahren bereits durchbrach "Reisende im Wind" im Heimathafen Frankreich die Millionen-Grenze an verkauften Exemplaren, ist inzwischen in
achtzehn Sprachen weltweit übersetzt...
Seit 2009, seit zehn Jahren nunmehr, kümmert sich dankenswerter Weise der Bielefelder Splitter Verlag ums Carlsen-Erbe, die Pflege des Bourgeonschen Gesamtwerks...
„Geschichte im Comic“ als eine Art Dokufiktion bietet diese Album-Reihe, die gut als Graphic Novel durchgehen kann.
Ganz ähnlich wie in Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman "Trutz Simplex oder Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin" Courasche (circa von 1669) bedient Bourgeon das Motiv der Frau als Reisender und Heimatloser (vgl. Wikipedia).
In der Serie „Reisende im Wind“, die mit „Blinde Passagiere gestartet war, gibt Bourgeons Heldin Isa die Staffette an ihre Urenkelin Zabo weiter:
Bourgeon spannt den Bogen weit - vom Ende des 18. Jahrhunderts im Fahrwasser der Französischen Revolution (die ersten fünf Bände), sodann im Sezessionskrieg der USA landend, bis neuerdings ins
Jahr 1885, fünfzehn Jahre nach Niederschlagung der Pariser Kommune von 1870/71, in die Ära der wechselvollen Dritten Französischen Republik.
Durch eine schicksalhafte Verwechslung muss die junge Adelige Isabeau de Marnaye ihre Heimat verlassen und sich auf eine abenteuerliche Reise begeben. In diesem selbst gewählten Exil lernt sie den jungen bretonischen Matrosen Hoel kennen und lieben. Ihre gemeinsame Flucht führt sie aus der Karibik durch die Kriege und Gefängnisse Europas bis an die afrikanische Westküste, mitten in die Schrecken der Sklaverei.
Doch trotz schwerer Prüfungen würde Isa dieses rebellische Leben um keinen Preis aufgeben, das sie durch alle Gesellschaftsschichten des 18. Jahrhunderts führt: Sie liebt ihre Freiheit und Unabhängigkeit!“
Inzwischen ist fast ein Jahrhundert vergangen: Und nun ist mit Band 8 zugleich der Start des neuen zweibändigen Zyklus zu melden …
„Paris, 16. Februar 1885. Fünf Jahre, nachdem den Anhängern der Pariser Kommune eine Amnestie zugesprochen wurde und die Verbannten zurückgekehrt sind, wird einer ihrer Wortführer, Jules Vallès, beigesetzt. Zabo hat sich unter die Menge der Zuschauer gemischt, um an dem Ereignis teilzunehmen. Zuletzt trafen wir sie vor 20 Jahren in Louisiana.
Seither hat sie jedoch ihren Namen geändert und nennt sich nun Clara. Als sie ein junges, eben erst aus ihrer Heimat, der Bretagne, angekommenes Mädchen bemerkt, das misshandelt wird, reagiert Zabo ohne zu zögern...“.
Zeichnerisch fein ausgeführt, bietet das Layout einen Mix aus eher minimalistischen Panels mit Fokus auf die jeweiligen Personen und fast schwelgerischen Groß-Panels mit vielen Details: So wird Geschichte - auch dank Bourgeons Fähigkeit, fesselnd und mit Empathie für seine Figuren zu erzählen - erlebbar, weil Leser/Betrachter emotional mitgehen kann (und muss, sich identifizieren kann).
Die Weltausstellung spielt mit rein genauso wie der höchst umstrittene Bau(beginn) der Basilika Sacre Coeur am Montmartre – und natürlich das Besichtigen des Eiffelturms (resp. der Sicht auf Paris von dort oben): Welch ein Wechsel für die junge Frau aus der Provinz in die Großstadt... Immer aus der Perspektive der Auseinandersetzung um die Pariser Kommune.
Interessant zudem das Experiment, die Hauptperson Klervi als Bretonin immer mal wieder in ihrer Muttersprache reden bzw. singen zu lassen:
abschließend aufgelöst und übersetzt auf vier Seiten „Anmerkungen“. (Bretonisch ist eine Variante des Keltischen und damit Kornisch und Walisisch eng verwandt.) - kein Zufall, lebt doch der
geborene Pariser Bourgeon schon seit langem in der Bretagne...
Der deutsche Verlag hat auch ein Experiment gewagt: Der Band ist vorher in vier Teilen als Schwarzweiß-Zeitung erschienen … ein völlig anderes
Erleben im Großformat, mit Add-ons – immerhin kosten die vier Teile mehr als der jetzt erschienene 4c-Band. (Siehe auch das große Francois Bourgeon-Dossier von Martin Frenzel hier auf
www.comicoskop.com/portraets/portraet-francois-bourgeon/). Dieser achte Band der "Reisende im Wind"-Saga bietet jedenfalls gute Gelegenheit, die alte Bände aus den 1980ern wieder hervorzuholen
und das ganze Epos um die libertäre Heldin Isa und ihre Nachkommen von Anfang bis Ende aus einem Guß zu lesen. Fazit: Ein Klassiker der europäischen Erwachsenencomic-Geschichte, auch vierzig
Jahre nach der Premiere immer noch sehr empfehlenswert.
HPR