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COMICOSKOP - E-Fachmagazin für Comic-Kultur * herausgegeben und gegründet von Martin Frenzel  /  COMICOSKOP-Chefredakteur: Martin Frenzel

Comicoskop-Aufmacher: August 2022

"Marie, es brennt" - COMICOSKOP-Dossier zum 100. Geburtstag der preußischen Solitärin, Pionierin der westdeutschen Bildsatire und westdeutschen Cartoonistin Marie Marcks (25. August 1922 - 7. Dezember 2014)

25. August 2022: Altmeisterin Marie Marcks, die Grande Dame der bundesrepublikanischen Bildsatire, feiert posthum ihren 100. Geburtstag

Sie hielt der westdeutschen Bonner Republik den Spiegel vor / Großes COMICOSKOP-Exklusiv-Dossier über die große Bildsatirikerin von Professor Dr. Dietrich Grünewald / Westdeutsche Pionierin der Frauencomics und Vorreiterin der heutigen Comic- und Cartoon-Zeichnerinnen-Generation

COMICOSKOP-Hommage zum 100. Geburtstag von Marie Marcks (25.08.2022)

Marie Marcks: Für eine bessere Welt. Schwarz-weiß und bunt.

Aufrüttelnde Bildsatirikerin und große Bildergeschichten-Erzählerin - Eine würdigende Bestandsaufnahme zum 100. Geburtstag von Dietrich Grünewald

Am 25. August wäre die 1922 in Berlin geborene Marie Marcks 100 Jahre alt geworden. Als sie im Dezember 2014 mit 92 Jahren verstarb, würdigten zahlreiche Zeitungen sie als die große deutsche Karikaturistin, als „Grande Dame der deutschen Karikatur“ (auch wenn die bescheidene Marie Marks diese Bezeichnung nicht mochte).[1] „Ihr Humor wird dem Feminismus fehlen“, schrieb Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung.[2)      

Abbildung 1: Marie Marcks: Die Assistentin

Er weist damit auf eines ihrer zentralen Themen: die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft. Beispielhaft charakterisiert Abb. 1 bissig und überdeutlich, wie Marie Marcks diese Rolle sah: Lässig, die Hand in der Hosentasche, steht der fein gekleidete Herr übergroß dar. Er schaut aus dem Bild, würdigt die Frau keines Blicks, sondern nutzt nur – selbstverständlich und nebenbei – ihre Dienstleistung: Er streift die Zigarettenasche in den von ihr bereit gehaltenen Aschenbecher. Damit die Asche auch ordentlich dahin fällt, wohin sie soll (und nicht etwa daneben), muss sich die sowieso schon bedeutungsbezogen sehr kleine Frau noch auf einen Schemel stellen, um nah an die Hand des Chefs zu reichen. Die Bezeichnung „Assistentin“ ist dabei sarkastisch – denn nicht inhaltlich oder organisatorisch hat sie zu assistieren, sondern nur für eine begleitende Nebensache. Marie Marcks wusste aus eigener Erfahrung, was sie hier so treffend charakterisiert, in Beruf wie Ehe. In ihrem letzten Interview bekannte sie: „Sämtliche Männer in meinen Zeichnungen zeigen immer meinen dritten Mann Helmuth.“ Er hatte sich voll auf seine Karriere als Wissenschaftler konzentriert und sie mehr oder weniger in der Familie allein gelassen und sich schließlich von ihr getrennt.[3] Noch ein zweiter Aspekt klingt in Matzigs Zitat an: Bei allem Engagement für die Frauenemanzipation (für die sie kämpfte und die sie lebte), war sie dabei nicht fanatisch, sondern humorvoll, oft selbstironisch. Ein Engagement für Alice Schwarzers Emma kam nicht zustande, denn die „wollte, dass ich Männer als Verbrecher hinstelle. Ohne jede Abstufung. Das war mir zu platt.“ wie Marcks sagte.[4] Sie war nie organisatorisch gebunden und verstand sich eher als „Privatfeministin“, als „Einzelkämpferin“.[5] Zudem hatte sie ein sehr breites Themenspektrum, so dass sie zurecht als satirische Chronistin der BRD gelten kann. Ihre Zeichnerinnen-Karriere begann 1963 mit Karikaturen für die wissenschafts-politische Monatszeitschrift atomzeitalter (hg. von Claus Koch), für die sie bis 1966 zeichnete; von 1965 bis 1988 bereicherte sie mit aktuellen politischen Karikaturen die Süddeutsche Zeitung, von 1966 bis 1988 war sie in weiteren zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften präsent, u.a. im Spiegel, in Die Zeit, im Vorwärts, in Brigitte wie in Pardon und Titanic.

Abb. 2: Marie Marcks: "Es geht mal wieder ums Ganze!" - Karikatur zur Atombombe

Zu ihren wichtigen Themen zählte damals die bis heute aktuelle Diskussion um die Nutzung der Atomenergie, aber auch die weltweite Aufrüstung. Abb. 2 zeigt, wie eine militaristisch gesinnte Politik – die bestimmende übergroße Figur rechts ist mit entsprechenden Attributen, Säbel und Sporen, rollenzuweisend ausgestattet – die Bürger dazu bringt, Geld für die Aufrüstung zu zahlen, wobei selbst Kinder animiert werden, Münzen in eine wie eine Sammelbüchse gerierte Granate zur Zukunftssicherung zu werfen. Marcks gelang es immer wieder, außerordentlich pointiert und mit sehr prägnanten Bildern, das, was sie als notwendig zu kritisieren ansah, entlarvend zu vermitteln. Und wie aktuell ihre mahnende Kritik ist, zeigt sich bis und gerade heute. In einer anderen Zeichnung präsentiert sie einen Offizier, der durch zahlreiche Sterne auf der Schulterklappe und ebenso zahlreichen Orden auf der Brust seine Wichtigkeit demonstriert. Als Nase hat er eine Rakete im Gesicht, auf der – klein und verloren – ein Friedensengelchen sitzt und „Abrüstung“ fordert. Der sarkastische Kommentar des Offiziers (der heute nicht anders ausfällt): „Die Blase wird sie sich erkälten.“(6)

Abb. 3: Marie Marcks: Mit der Loreley gegen die Verschandelung der Natur

Damals wie heute war der Schutz der Umwelt wesentliches gesellschaftliches Problem. Wenn Marie Marcks – für die Betrachter leicht zu erkennen aufgrund der Heinrich Heines Lied zitierenden Sprechblase (Abb. 3) – gerade die Loreley, touristisch wie national aufgeladen, wählt, um hier am Rhein zu demonstrieren, wie der Wohlstandsabfall die Natur verschandelt und der Loreley einen neuen Grund für ihre Traurigkeit gibt, so spricht das die emotionale Betroffenheit der Betrachter unmittelbar an. Neben szenischen wie metaphorischen Karikaturen, im selektierenden Strich markant, im Inhalt zugespitzt, in der satirischen Kritik unmissverständlich, sind es vor allem kleine Bildgeschichten mit zwei und auch mehr Panels, die Marie Marcks für ihre visuelle Satire heranzieht.

Abb. 4: Marie Marcks nimmt die Asyl-Praxis in deutschen Ausländerbehörden aufs Korn

In Abb. 4 sehen wir einen Asylbewerber bei dem zuständigen Beamten vorsprechen. Wie nötig und eilig sein Antrag ist, wie hochgefährlich seine Situation, zeigen – metaphorisch – die Flammen, die ihm aus Nacken und Kopf lodern (P1). Der stempelbewaffnete Beamte hinter dem breiten Schreibtisch schickt den Bewerber weiter zum nächsten Schreibtisch und wieder weiter und wieder… Die Flammen werden mehr und mehr, der arme Mensch brennt, qualmt – und das Einzige, was einem Beamten dazu einfällt, ist der Vorwurf, dass der Antrag beschädigt sei und neu zu stellen ist (P7). Schließlich fressen die Flammen den Bewerber auf; sarkastisch kommentiert der Beamte sein Ende. Wenn er zudem zynisch meint, wäre er ein „echter“ Bewerber, stünde er „wie Phönix aus der Asche“ wieder auf (P 11), macht er damit deutlich, dass die Behörden zunächst jede Berechtigung eines Asylantrages bezweifeln. Die dynamische Bildgeschichte lässt keinen Zweifel an der Parteilichkeit der Zeichnerin, und die Praxis der deutschen Ausländerbehörden bestätigen leider vielfach dieses Vorgehen bis heute.

Ein anderes brisantes Thema, das ebenfalls damals wie heute traurige Wichtigkeit hat, ist Marie Marcks eindringliche Warnung vor einem Wiedererstarken des Nationalsozialismus, dessen Schrecken sie ja selbst erlebt hatte.

Abb. 5: Marie Marcks: Wie das Gift-Fass der Nazi-Ideologie weiterwirkt

Die verhängnisvolle Ideologie der Nazis ist – so zeigt uns Abb. 5 – eben nicht ausgerottet worden, sondern ruht in einem Fass in einem Erdhügel und vergiftet langsam aber stetig das auf ihm wachsende tarnende Gras. Zwei Hasen (die Anspielung auf „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts“ drängt sich als typische Haltung auf) fressen das Gras ab und nehmen mit ihm das Gift auf. Der Jäger, der dann die Hasen schießt, brät und verzehrt, ist parodierend der bekannten Geschichte vom Wilden Jäger aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter entliehen. Dieser Tradition folgend, hat Marcks gereimte Unterzeilen – die den vertrauten Liedtext abwandeln – mit der Bildaussage verbunden. Im letzten Panel übergibt sich der Jäger – ihm ist schlecht geworden. Warum? „Dreimal darfst du raten.“ Die Aufforderung an den Betrachter ist rein rhetorisch. Über die Aktualität der Geschichte muss man nicht reden – die Lage hat sich eher verschlimmert…

In ihrem letzten Interview bekannte sie: „Ich habe am Anfang meine Zeichnungen immer mit M. Marcks signiert. Damit niemand merkt, dass die Zeichnungen von einer Frau stammen.“[7] Auch wenn es mit Käthe Kollwitz, Paula-Modersohn-Becker oder Jeanne Mammen hochgeschätzte Künstlerinnen in der Kunstszene gab, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierten männliche Künstler – und in der Karikatur-Szene schon gar. Die Simplicissimus-Zeichnerin Franziska Bilek (1906-1991) war eine große Ausnahme; und in der jungen Bundesrepublik war Marie Marcks lange die einzige Karikaturistin. In der DDR war Barbara Henniger (*1938) eine der wenigen Zeichnerinnen. 

Franziska Bilek (1906-1991) studierte ab 1924/25 an der Akademie der Bildenden Künste in München Malerei. Olaf Gulbransson (1873-1958) wurde auf ihr Talent aufmerksam. Für den Simplicissimus zeichnete Bilek in der braunen NS-Zeit von 1936 bis 1944.

Doch sie wie Marie Marcks setzten sich durch und bereiteten für jüngere Generationen den Weg. Hogli (i.e. Amelie Glienke, * 1945), Franziska Becker (*1949) oder Katharina Greve (*1972) und Dorothea Landschulz (*1976) haben mit ihren kritisch-satirischen Cartoons und Comics das immer noch männlich dominierte Feld bereichert. In der Comic-Szene muss heute keine Frau ihr Geschlecht verstecken, eine Fülle wunderbarer Bildgeschichten verdanken wir herausragenden Bild-Erzählerinnen.

Abb. 6a & 6b: Marie Marcks autobiografische Aufzeichnungen "Marie, es brennt!" und "Schwarz-weiß und  bunt" in zwei Bänden: Einfühlsame wie kritisch-aufklärende Beschreibung deutscher Geschichte

Marie Marcks war nicht nur die aufrüttelnde Satirikerin. Ihre zweibändige Autobiographie (Abb. 6a, 6b) zeigt, wie gekonnt sie der Kunstform Bildgeschichte auch für längeres Erzählen beherrscht, wie anschaulich, wie bewegend sie sie zu schildern weiß. Beide Bände (sie sind 1995 auch als Doppelband erschienen) sind nicht nur eine exemplarische, ebenso einfühlsame wie kritisch-aufklärende Beschreibung deutscher Geschichte, sie offenbaren auch, wie sehr ihr Leben, die Schicksalsjahre während des Krieges, die schwere Zeit nach dem Krieg, die sie dann nach Heidelberg verschlug, und in der sich entwickelnden BRD, ihre Kunst, ihre Themen geprägt hat. „Mein Beruf war eine Berufung“ sagte sie.[8] Und allen Widrigkeiten zum Trotz hat sie sich als Zeichnerin behauptet. Wobei ihre Begabung sich früh zeigte und im familiären Umfeld auch sehr gefördert wurde. Ihr Vater war Architekt, der Onkel der Bildhauer Gerhard Marcks, die Mutter unterhielt eine private Kunstschule, in der auch Marie lernte. Nach einem abgebrochenen Architekturstudium in Berlin und Stuttgart widmete sie sich nach dem Krieg der Grafik, schuf Plakate, Illustrationen und dann Karikaturen, Bildgeschichten, kleine Zeichentrickfilme. Die französische Karikatur, Bosc, Chaval, Sempé, die satirische Zeitschrift Hara-Kiri waren Vorbilder, wie auch Paul Flora und andere Karikaturisten, insbesondere der Neuen Frankfurter Schule, mit denen sie eng zusammenarbeitete und befreundet war.

Marie, es brennt! Erster Band der Autobiografische Aufzeichnungen von 1922-1968...

Sie entwickelte ihren unverkennbaren eigenen Strich, das dynamische Zusammenspiel von Körpersprache, Aktion und (vielfach) Sprechblase, die spezielle Kolorierung mit Buntstiften (was auch die Autobiographie prägt). Sie erzog – meistens allein - fünf Kinder und gab dabei ihr Zeichnen nicht auf. Dieser Alltag, der keinesfalls, wie sie sagte, immer ideal verlief, war lebensnaher und hochwichtiger Stoff für ihre Kunst: Das Verhältnis von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen zueinander, die Tücken und Chancen der Erziehung thematisiert sie in unzähligen Karikaturen und Bildgeschichten, wie z. B. Euch geht’s zu gut (München 1977), VaterMutterKind (Heidelberg/Wiesbaden 1977). Sie hat das prägnant dargestellt: Ein enger Käfig hemmt und (ver)hindert Entwicklung und Entfaltung. Er steht symbolisch für alle familiären, schulischen, gesellschaftlichen Hürden und Einschränkungen. In ihrer Bildgeschichte schließt er das Kleinkind („ich kann nicht!“), das Kind („“ich darf nicht!“), den Jugendlichen („ich will nicht mehr!“) ein.[9] Vor allem in pädagogischen Zeitschriften wie b:e (betrifft: erziehung) und päd extra begleitete sie kritisch ironisch aber auch anschiebend die bundesdeutschen Bemühungen um schulische Reformen.

 

 

Abb.7: Marie Marcks zeigt das Wirrwarr der Schule...

Wie komplex, wie verwirrend, anstrengend (für Schüler wie Lehrer), wie beengt, unklar und doch nötig Schule ist, zeigt Abb. 7, in der Marcks das bekannte griechische Mäander-Ornamentband als anschauliche Visualisierung heranzieht. Der „laufende Hund“, wie das Band auch heißt, steht für das Erlangen der Ewigkeit als Dauer in der Zeit durch Reproduktion – das Wirrwarr der Schule kann man kaum treffender darstellen.

Bei aller pointierten Kritik – die visuelle Satire von Marie Marcks schaut nicht belehrend, besserwisserisch von oben herab, sondern entspringt der Praxis, verbindet Humor und Kritik, regt mehr an als dass sie verletzt. Stets setzte sie sich für die gesellschaftlich Schwächeren ein – mit klarem Ziel. Sie wollte nicht allein kritisieren. „Ich wollte die Welt verändern!“ sagte sie. „Ob das irgendwie, irgendwann mal gelungen ist? Ich weiß es nicht… Und tröste mich gern mit dem Satz ‚Steter Tropfen höhlt den Stein.‘“[10] 

Abb. 8: Marie Marcks: Fast nichts verrät der schöne Schein… vom Risiko, ‘ne Frau zu sein - aber es verändert sich etwas...

Beklagt sie in der Bildgeschichte Fast nichts verrät der schöne Schein… vom Risiko, ‘ne Frau zu sein…,[11]  wie ein Frauenleben einsam, ohne Geld, im Rollstuhl steil bergab endet, so zeigt sie in Abbildung 8, dass sich wohl doch etwas verändert hat. Über Jahrhunderte – so wäre zu deuten – ist die Frauenrolle konservativ, passiv, inaktiv-duldend, wie die starre russische Puppe veranschaulicht, die beim Aufdecken stets das gleiche Muster wiederholt – bis dann plötzlich (und erstaunt schaut die letzte starre Puppe auf) ein junges quicklebendiges Mädchen hervorspringt und dann – schon größer geworden und mit Hosen, statt mit Rock gekleidet – dem Mann, der sie mit der alten Puppenhülle, der konventionellen Rollenzuweisung, wieder einfangen und einengen will, eine lange Nase dreht und selbstbewusst ihren Weg geht. „Hartnäckig bleiben“ war Marie Marcks‘ Credo. Und ja – sie hat etwas bewirkt, im Denken, im Fühlen und schließlich auch im Handeln. Dass ihre Kritik, ihr Aufrütteln wahrgenommen wurde, spiegelt sich auch in den vielen Preisen, die sie erhalten hat, vom Bundesverdienstkreuz (1994) bis zum „Göttinger Elch“ (2002) oder dem Deutschen Karikaturenpreis (2008), beide für ihr Lebenswerk. Das Wilhelm-Busch-Museum, Hannover, hat ihren Nachlass erhalten und würdigte 2015 mit einer umfangreichen Retrospektive ihr Werk. Hier wie auch dank der zahlreichen Publikationen bleibt sie uns präsent und wichtig - vor allem aufgrund der anhaltenden Aktualität, auch wenn sich doch einiges seit den 1950er Jahren zum Besseren gewendet hat. Und daran hat sie gewiss ein gerüttelt Maß Anteil.

 

Dietrich Grünewald

Quellenverzeichnis und Literatur:

[1] Focus 29.5.2015, zur Ausstellung 2015, Hannover), s. https://www.focus.de/kultur/kunst/ausstellungen-marie-marcks-grande-dame-der-deutschen-karikatur_id_4715412.html; s. Anm. 5

 [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/zum-tod-von-marie-marcks-die-welt-ist-eine-karikatur-1.2257069

[3] Interview mit Bettina Wolf, März 2014, https://www.stadtlandkind.info/habe-ich-eine-wut-dass-ich-ein-maedchen-bin/

[4] ebd.

[5] Gespräch mit Stephan Karkowsky, 2012 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/eine-grande-dame-bin-ich-ja-gar-nicht-100.html); Gespräch mit Peggy Parnass, in: Marie Marcks. Schöne Aussichten. Berlin 1980, 11

 [6] Abb. in WP Fahrenberg (Hg): Meister der komischen Kunst. Marie Marcks. München 2011, 79

(7) Wolf 2014, s. Anm. 2

 [8] Gespräch mit Fahrenberg (Fahrenberg 2011, 33)

[9] Marie Marcks: Krümm dich beizeiten. Reinbek 1981, 40f.

[10] ebd.

[11] Abb. in Fahrenberg 2011, 64f. 

Unser COMICOSKOP-Autor:

Prof. Dr. Dietrich Grünewald (em.),   international  renommierter Comicforscher und -theoretiker ("Prinzip Bildgeschichte"), lebt in Reiskirchen bei Gießen

Prof. Dr. Dietrich Grünewald, Jahrgang 1947, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Studium Lehramt Deutsch, Kunst, Universität Gießen, Promotionsstudium Kunstwissenschaft, Germanistik, Promotion 1976, 2. Staatsexamen 1977, Lehrer, 1977 – 1990 Lehrbeauftragter (Bildgeschichte) am Institut für Jugendbuchforschung, Universität Frankfurt/M., 1978 Wiss. Ass. Universität Dortmund, Institut für Kunst und ihre Didaktik, Habilitation 1980, 1986 apl.-Prof., 1995 Prof. für Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik, Institut für Kunstwissenschaft, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, ab 1. 4. 2013 pens., 1986 – 1990 Bundesvorsitzender des BDK, Mitherausgeber von Kunst + Unterricht (bis 2013), im Februar 2005 Initiator, Gründungsmitglied und Gründungspräsident der ComFor (deutschen Gesellschaft für Comicforschung), deren 1. Vorsitzender er von 2005 bis 2013 - acht Jahre lang - war (siehe www.comicgesellschaft.de).  Publikationen im Bereich Kunstdidaktik, Kunstwissenschaft, Bildgeschichte, Comicforschung, Karikatur u.a., Herausgeber und Mit-Autor der Schulbuchreihe Kunst entdecken (Berlin)Entwickelte die Theorie des Prinzips Bildgeschichte. Veröffentlichungen zum Thema Comic und Bildgeschichte: U.a. .Wie Kinder Comics lesen: eine Untersuchung zum Prinzip Bildgeschichte, seinem Angebot und seinen Rezeptionsanforderungen sowie dem diesbezüglichen Lesevermögen und Leseinteresse von Kindern, Frankfurt am Main, 1984;Vom Umgang mit Comics, Berlin 1991;Vom Umgang mit Papiertheater, Berlin 1993;Comics, Tübingen 2000;Politische Karikatur: zwischen Journalismus und Kunst, Weimar 2002, (Hg.): Struktur und Geschichte der Comics Bochum 2010, Loriot und die Zeichenkunst der Ironie, Berlin 2019 (Erstveröffentlicht auf www.comicoskop.com), abstrakt? abstrakt! Abstraktion und Bildgeschichte, Berlin 2021 (erstveröffentlicht auf www.comicoskop.com), Mit-Herausgeber des Sammelbands Studien zur Geschichte des Comic (gemeinsam mit Bernd Dolle-Weinkauff), Berlin 2022. Er hat auf COMICOSKOP bereits über Karl May-Comics, Loriot und dessen Zeichenkunst der Ironie geschrieben und über Abstrakte Comics: Von Frank King über Robert Crumb und Joost Swarte bis Ulf K. (Über Bildgeschichten der anderen Art - und Abstrakte Kunst im Comic).

 

 

Die Cartoon-Legende Marie Marcks: Große Werkausgabe erscheint zum 100. Geburtstag im Münchner Antje Kunstmann Verlag

Die Großmeisterin des gesellschaftspolitisch Widerständigen: Ein Marie Marcks-Abend der besonderen Art würdigt Westdeutschlands führende Cartoonistin, Karikaturistin und Comic-Zeichnerin zu deren 100. Wiegenfest

Von Berlin bis Heidelberg: Ein Marie Marcks-Abend der besonderen und munteren Art im Frankfurter CARICATURA-Museum für Komische Kunst / Von COMIOSKOP-Chefredakteur Martin Frenzel

Anlässlich des 100. Geburtstags der Karikaturistin lud  das Caricatura Museum Frankfurt am 17.8. 2022  zur gelungenen Präsentation der zweibändigen Werkausgabe „Die große Marie Marcks“ ein. Zu Gast waren die Hamburger Satirikerin Ella C. Werner und die Münchner Verlegerin und Marie Marcks-Weggefährtin Antje Kunstmann. Zum Wiederentdecken, zum Neuentdecken: Die wegweisenden Karikaturen und Bildergeschichten von Marie Marcks, Chronistin eines halben Jahrhunderts und Feministin der ersten Stunde, sind aktuell und erfrischend geblieben. Ihr besonderer Blick auf die Umwelt und die Ungleichheit, auf Männer und Frauen, auf Familie, Erziehung und Bildung erzählt, wie es war und wie es sein könnte, ja müsste! Zu ihrem 100. Geburtstag am 25. August 2022 erinnert die neue zweibändige Werkausgabe „Die große Marie Marcks“ an die „Großmeisterin, die – auf dem Papier – Detektivin, Anwältin, Richterin und Strafvollzugsbeamte in einer Person ist“ (F.W. Bernstein) und eine Ikone für nicht nur eine Generation von Frauen.

Es war dies ein vergnüglicher, gelungener und informativer Abend im Frankfurter Caricatura-Museum für Komische Kunst: Ein Marie Marcks-Abend der besonderen Art zu deren 100. Geburtstag. Gelungen auch nicht zuletzt deshalb, weil mit der Marie Marcks-Freundin, Förderin und -Verlegerin Antje Kunstmann eine Persönlichkeit Rede und Antwort stand, die die große Jubilarin kannte wie kaum eine andere.

So entstanden im Laufe des Abends die Konturen, deren Leben der Maxime Alexander Kluges: „Jeder Mensch hat zweierlei Eigentum: Seine Lebenszeit und seinen Eigensinn“ zu folgen schien. Die Jahrhundertfrau Marie Marcks (*25. August 1922 in Berlin; †7. Dezember 2014 in Heidelberg) machte – allen Widrigkeiten zum Trotz – als bekannte politische Karikaturistin, Grafikerin und Buch-Illustratorin von sich reden. Ihre pointierten, eher gesellschafts- denn tagespolitischen Bildgeschichten handeln von Frau und Familie, Jugend, Schule und Erziehung, Bildung und Ungleichheit, Umwelt und Atomkraft, Rüstung, Politik, Wissenschaft und Forschung, Tier und Mensch und nicht zuletzt von Liebe und Beziehung.

Aber dank Antje Kunstmann, die jetzt eine rundum bibliophilen zweibändige Jubiläumsedition unter dem Titel „Die große Marie Marcks“ herausgebracht hat, erfuhren die Zuhörer:innen Details, die normalerweise nicht in den landläufigen Marie Marcks-Lebensläufen zu finden sind. Etwa, dass sie, die preußisch geprägte Berlinerin in ihrer Wahlheimat Heidelberg am Neckar zunächst in den 1950er Jahren mit Plakaten für den bundesweit legendären Heidelberger Filmclub und dem Jazzclub Cave 54 erste Meriten erwarb und da Leute wie den später legendären Konzertmanager Fritz Rau kennenlernte.

Diese Marie Marcks, die in den 1970er und 1980er Jahren zur scharfen Bildsatirikerin der Ökologie-Bewegung und Anti-AKW-Kritikerin par excellence avancierte, war in zweiter Ehe mit einem leibhaftigen Atomforscher verheiratet – und ihre ersten Cartoons keineswegs atomfeindlich, ganz dem Zeitgeist der angeblich friedlichen“ Nutzung der Atomenergie folgend.

Man erfuhr vom verdrussreichen Amerika-Aufenthalt der Marcks, die ihrem Gatten dorthin gefolgt war: Immer dann, wenn sie den  Redaktionen jenseits des Atlantiks etwas anbot, war der dort schon weithin etablierte Tomi Ungerer schon eher dagewesen und habe ihr die Aufträge weggeschnappt. „Tut mir leid, das haben wir schon“, muss sie da desöfteren zu hören bekommen haben.

Wir erfahren auch, dass im Hause der Eltern reichlich Prominenz ein und ausging: Von Jürgen Habermas bis Walter Gropius… Mit dem Atomforscher und späteren Atomkritiker Robert Jungk freundete sie sich an – und wandelte sich, unter dessen Einfluss,  von der Pro-Atom-Saula zur Anti-AKW-Paula.

Mit ihm, dem Zukunftsforscher Robert Jungk, habe Marie Marcks viel und eng zusammengearbeitet, erzählt Kunstmann.

Als sie sich Anfang der 1960er Jahre entschließt, damals als Frau allein weiter Flur im Comic- und Cartoon-Bereich politische Bildsatire zu wagen, da sagt ihr Vater trocken: „Dann wäre es gut, wenn Du Dich vorher mal ein bisschen politisch informieren würdest.“

Sie verewigt den Vater später in einem Bilderwitz: Die Mutter habe sich um Kinder und Haushalt gekümmert - „Und mein Vater hat den Habermas….“

Vom Vater erbte sie wohl den Sinn fürs Lakonische, hatte der doch – wie sie in ihrer gezeichneten Comic-Biografie preisgab – als Begründung, warum er seine Frau, Marie Marcks‘ Mutter, geehelicht habe, angeführt: „Sie ragte wie ein Rennpferd heraus, unter lauter Salatschnecken.“

Von der Mutter bekam sie das grafische Talent mit, vom Vater auch, aber zusätzlich den schlagfertigen Schnodderton und den Hang zum Wortwitz. Marcks selbst erzählt im Interview: „mein Vater war Architekt und ein großer Zeichner; er konnte das, was ich nie gelernt habe, nämlich aus dem Handgelenk heraus etwa eine komplette Indianerschlacht aufs Papier bringen. Meine Mutter Else Marcks-Penzig, 1887 geboren, war auf der Kunstakademie gewesen, was damals noch sehr außergewöhnlich. Sie hatte ein außergewöhnlich ästhetisches empfinden (…), sie war dann später auch eine ausgezeichnete Kalligraphin, hat das an mich weitergegeben, allerdings bin ich darin nie so gut geworden wie sie.“

Doch der Weg zur gefeierten Star-Cartoonistin war hart und steinig: „Die Leute haben sich nicht um Marie Marcks gerissen“, so Kunstmann.

Erst in den 1970ern und 1980ern wandelte sich die Lage, kam der fulminante Durchbruch.

Als junge Frau in der NS-Zeit sei sie schon anders gewesen als die Anderen, liebte mitten im braunen Wahnsinn zwei Männer, konnte sich lange nicht zwischen ihnen entscheiden.

Lange zeichnete sie politische Karikaturen für die Süddeutsche in München (seit 1965), doch ausgerechnet über eine Karikatur zum Thema Umweltschutz kam es zum Streit: Die SZ-Redaktion wollte sie nicht drucken, Marie Marcks erwiderte, dann höre sie eben auf.

"Die Süddeutsche hat Marie Marcks wegen einer abgelehnten Umweltschutz-Zeichnung rausgeschmissen"

Faktisch hat die Süddeutsche die Künstlerin wegen einer Öko-Karikatur 1988 hochkant rausgeschmissen, sagt Kunstmann – und das ist schon ein starkes Stück: Die heutige SZ-Chefredaktion wird sich vermutlich grün und blau ärgern, über die derart verstockte Kurzsichtigkeit ihrer Altvorderen.

Kunstmann schreibt dazu: „Die langjährige Zusammenarbeit mit der Süddeutschen Zeitung – über zwanzig Jahre erschienen dort ihre Karikaturen zur Tagespolitik – endete, als sie nicht hinnehmen wollte, dass ein Blatt von ihr über die dubiosen Machenschaften der Firma Hoechst (zu sehen im Band Karikaturen und Bildergeschichten, S. 138) abgelehnt wurde. Ihr hat dieser feste Platz auf der Meinungsseite der Süddeutschen Zeitung gefehlt, die Möglichkeit, mit der politischen Karikatur Einfluss zu nehmen, denn: einfach nur dagegen sein, hatte schon mal nicht gereicht, um das dritte reich des bösen zu verhindern. Auch den kontakt mit den Kollegen der SZ hat sie vermisst. Hin und wieder hat sie gesagt: Vielleicht hätte ich in dieser Sache nicht so stur sein sollen.‘ Beruflich konnte sie sich vor Aufträgen in diesen Jahren kaum retten. Ihre Zeichnungen erschienen überall. In der Zeit, im Spiegel, im Stern, im Vorwärts, in der Brigitte, in den einschlägigen pädagogischen Zeitschriften, auf Plakaten zu allen möglichen Kongressen. Sie war in der Öffentlichkeit präsent, auch ohne das regelmäßige Erscheinen in der Süddeutschen Zeitung.“

Auch wenn es dann zunächst Marcks war, die sich ärgerte und damit haderte, wegen einer Umwelt-Zeichnung den guten SZ-Job preisgegeben zu haben: Von da an, in den 1970er und 1980er Jahren ging es aufwärts, gerade weil Marie Marcks ihren eigenen Weg ging.

Ihre Zeichnungen trafen den Nerv der Zeit, sie entpuppte sich als die ideale Besetzung als die  Bildsatire-Botschafterin  der Neuen Sozialen Bewegungen.

Freilich: „Sie war und blieb ihre eigene Frauenbewegung, mit Alice Schwarzer konnte sie nichts anfangen“, schildert Antje Kunstmann die Aversion der Altmeisterin gegen die apodiktischen Rundumschläge der Emma-Herausgeberin.

Ihre Arbeiten spiegelten den westdeutschen Zeitgeist der 1970er und 1980er Jahre: Umwelt, Anti-AKW und Umweltgifte, Mann und Frau, Abrüstung/Friedensbewegung, RAF/ Deutscher Herbst und Überwachungsstaat, Polizei und Justiz, Mutter und Kind, Frau und immer wieder Mann….

„Wir erreichten damals mit ihren Werken Auflagen von 30.000 Exemplare, von denen wir heute nur noch träumen können“, so Kunstmann, die die Werke von Marie Marcks maßgeblich veröffentlichte.

Der Abend streifte auch die Neue Frankfurter Schule, mit deren Protagonisten Marie Marcks enge Freundschaftsbande gepflegt habe, vor allem zu F.W. Bernstein (von dem auch das Vorwort der Jubiläums-Wehrausgabe stammt) und F.K.Waechter und Hans Traxler, am wenigsten wohl zu dem Intellektuellen der Gruppe, Robert Gernhardt…..

Nur an einer Stelle geriet der ansonsten sehr gelungenen Marie Marcks-Abend im Museum der Komischen Kunst ein wenig auf Ab- und Irrwege: Nämlich, als die Moderatorin, die ihre Sache sonst sehr gut machte, sich zur Behauptung verstieg, es gebe außer Claire Bretécher und Franziska Becker so gut wie keine anderen Frauen in der Cartoon- und Comic-Szene. Allein für Frankreich stimmt diese Behauptung schon lange, seit den 1970ern, nicht mehr, ist sogar genau genommen grober Unfug: mensch denke nur an Florence Cestac, Chantal Montellier, Annie Goetzinger, Catel (Muller), Marjane Satrapi, Catherine Meurisse, Pénélope Bagieu oder Coco, um nur die bekanntesten zu nennen… Die Tatsache, dass Viele hierzulande nur Claire Bretechers „Frustrierte“ oder „Agrippina“ kennen mögen, kann dabei kein Maßstab sein, um Pauschalklischees abzugeben… Und selbst in der verspäteten Comic- und Cartoon-Nation Deutschland sind die Enkelinnen einer Marie Marcks inzwischen reich an der Zahl – -inzwischen haben acht Comic-Künstlerinnen beim Erlanger Comic-Salon den Hauptpreis fürs Lebenswerk erhalten…

Welche Zeichnung sich denn ins kollektive Gedächtnis am meisten eingeprägt habe, wird Verlegerin Kunstmann gefragt: Dies sei eine schwierige Frage, vielleicht jener allererste Cartoonband, in der eine Frau zu einem splitterfasernackten Mann sagt: „Weißt Du, dass Du schön bist.“ Aber natürlich sei auch der Bildwitz „Keine welkt so schön wie Du!“ unvergessen.

Jedenfalls, so Antje Kunstmann, sei Marie Marcks eine „Solitärin“ und Privatfeministin gewesen, ihrer Zeit oftmals weit voraus.

Die Neue Frankfurter Schule-Legende F.W. Bernstein nennt Marcks denn auch in seinem posthumen Vorwort eine „Großmeisterin“: „Grund ihrer Ungeduld ihres Engagements ihrer Meinungsfreude ihres Zorns und ihres bürgerlichen Ungehorsams ist das Glück.“

Und er zitiert Rainer Hachfeld: so jahrhundertealt die Geschichte der Karikatur sein mag, so kurz ist die der deutschen Pressekarikatur. Während einige Experten erste karikaturistische Ausdrucksformen bereits im Altertum orten, hat das, was hier Pressekarikatur genannt werden soll, und was die Angelsachsen – mal wieder viel treffender – editorial cartoon nennen, die aktuelle politische Karikatur in der Tageszeitung bei uns eine Tradition von etwa 45 Jahren. Davor, bis 1939, hatten Karikaturen ihre eigenen Publikationen. Die bekanntesten waren die Fliegenden Blätter (1845 gegründet), der kladderadatsch (18748), Der wahre Jacob (1884) und der Simplicissimus (1896), Fachzeitschriften für geschriebenen und gezeichneten Humor, heute allenfalls vergleichbar mit der Titanic und dem Eulenspiegel… die war jedoch mitnichten eine 1945 durch die britischen und amerikanischen Besatzer und Presselizenzvergeber bei uns heimisch geworden. In den frühen Jahrgängen deutscher Nachkriegszeitungen finden sich bei einigen mehr britische und amerikanische editorial cartoons als deutsche Pressekarikaturen. Doch die deutschen Zeichner begriffen bald, was für ein interessantes neues Medium sich ihnen bot. 1948 erschien die erste Pressekarikatur von Felix Mussil in der Frankfurter Rundschau, 1949 die erste von Ernst Maria Lang in der Süddeutschen Zeitung, seit 1949 arbeitet Fritz Wolf für die Neue Osnabrücker Zeitung (damals Neues Tageblatt).“ Von 1971 war es ein Luis Murschetz der in der ZEIT Pressekarikaturen-Geschichte schrieb, als Nachfolger des großen Paul Flora...

Mal abgesehen davon, dass Hachfeld hier zu einseitig angelsächsisch argumentiert und die lange französische Dessinateurs de Presse-Tradition und politischen Bildsatire von Honoré Daumier bis Charlie Hebdo, Cabu, Wolinski, Charb, Luz & Co. komplett ausblendet, nutzte Marie Marcks zwar selber die ihr gebotene Plattform der politischen Presse-Karikatur, etwa in der „SZ“, war jedoch zeitlebens eher eine Bildsatirikerin mit dem politisch-soziologischen Blick auf die gesamte Gesellschaft und die Wechselwirkung des Zwischenmenschlichen (Mann und Frau!), um Georg Simmel zu zitieren. Dezidiert tagespolitische Karikaturen waren bei ihr eher selten, anfangs mal Erhard, als der 1965 Kurzzeit-Kanzler war, nur bei Kohl und FJS Strauß machte sie mal eine Ausnahme. Ansonsten galt ihr scharfer, politisch-soziologischer Blick eher dem Alltag oder der Gesellschaftspolitik und ihren fortwährenden Konflikten (Bildung, Ungleichheit, Umwelt, Rüstung, Justiz etc.).

Im ersten Band der zweibändigen blauen Werkausgabe sind zahlreiche Karikaturen und Comic-Einseiter der Altmeisterin der westdeutschen Bildsatire versammelt, auch der schöne Bildwitz: „Keine welkt so schön wie Du!“, aber eben die Schilder mit der Aufschrift „Wir sind keine Sexualobjekte!“ hochhaltenden alten Schachteln, oder der Cartoon „Weißt, dass Du schön bist“, in der eine Frau einem splitterfasernackten Mann das sagt, was normalerweise die Frau zu hören bekommt…

Ein Gespräch mit W. P. Fahrenberg von 2010 rundet diesen schönen Band ab. An einer Stelle des tiefe Einblicke ermöglichenden Gesprächs sagt Marie Marcks: „Woher kam der Erfolg? Ich hatte sicher als einzige Frau in einer von Männern dominierten Zeitungswelt, einen ganz anderen Blick auf das Weltgeschehen – ich hatte fünf Kinder, drei Mädchen und zwei Jungen, und wenn es etwa um Kriegsgefahr und Wiederbewaffnung ging, waren die natürlich beim Zeichnen immer in meinem Hinterkopf. Die männlichen Kollegen brachten diese emotionale Komponente sehr viel weniger in ihre Arbeit ein; sie reflektierten und thematisierten diese ganz persönlichen Bedrohungen praktisch überhaupt nicht. Ähnlich war es mit dem Paragraf 218, Schwangerschaftsabbruch: die Männer machten zwar die Gesetze, aber die Sache selber interessierte sie nicht wirklich – mich schon.“

Nicht minder schön wird es im zweiten Band, in der die beiden langen, autobiografischen Bildergeschichten  der Könnerin „Marie, es brennt!“ und „Schwarz-weiß und bunt“ – noch einmal versammelt sind – autobiografischen Aufzeichnungen von 1922 bis 1968, von Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik, als junge Frau während der NS-Diktatur und unter der Herrschaft des SS-Staats, sodann die Wiederaufbau- und Restaurationszeit in der bleiernen Zeit der Adenauer-Republik, in der Menschen wie Fritz Bauer die Ausnahme bildeten. „Die Mörder sind noch unter uns“, so der berühmte DEFA-Film Wolfgang Staudtes, der wie kein anderer die Phase nach 1950er und 1960er Jahre umreißt.  

Man hätte sich eine Fortführung der autobiografischen Aufzeichnungen über die Zäsur 1968 hinaus gewünscht, über die sozialliberale Zeit, die zwar endlich Licht ins postfaschistische Dunkel der Nachkriegszeit brachte, liberalisierende Reformen vorantrieb, aber auch Berufsverbote brachte und eine „fürsorgliche Belagerung“ (Heinrich Böll) in der Zeit des RAF-Terrorismus, des Deutschen Herbsts 1977, bis hin zu den neuen sozialen Bewegungen der Umwelt-, Anti-AKW-, Frauen- und Friedensbewegung, denen die Großmeisterin Marie Marcks so zugetan war. Dazu passt, dass Marie Marcks Bücher mit Titeln wie „Die Unfähigkeit zu mauern“ über Vorurteile gegenüber Frauen veröffentlichte – dabei die Sache selbst durch den Kakao ziehend, aber eben auch anspielend auf Alexander Mitscherlichs berühmtes Dictum.

Ein prägnanter Essay aus der Feder Antje Kunstmanns rundet diesen Band ab, Titel: Sich wehren, aber wie? Einblicke in ein ungewöhnliches Leben.“

Sie  schreibt darin über die Weggefährtin Marie Marcks und ihrer beider ersten Begegnung: „Ich habe damals als Lektorin in einem kleinen Verlag gearbeitet und mir vorgestellt, dass die Frau hinter dieser Zeichnung in meinem Alter sei, vielleicht ein bisschen älter. Das war 1973 und in diesem Jahr begegneten wir uns auf der Buchmesse. Dass ich auf eine  Frau aus der Generation meiner Mutter treffen würde, hatte ich nicht erwartet. Anders als die konservativen Frauen, die ich aus dieser Generation kannte, wirkte sie so jung, so unkonventionell. Eine Gleichgesinnte. (…) dass sie  ihre Arbeiten, bevor sie an unserem Stand vorbeikam, bei anderen Verlagen angeboten hatte, wusste ich nicht, und dass sie bei den Kolleg:innen nicht offene Türen eingerannt hat, wundert mich immer noch.“

Von Beltz über Dumont und Suhrkamp bis Fischer und Rowohlt – sie alle wollten Marie Marcks partout nicht drucken…welch eine Ignoranz, welche eine Fehleinschätzung. Kein Wunder, dass Marie Marcks junge Nachwuchs-Kolleg:innen als gebranntes Kind den Ratschlag gibt, immer hartnäckig zu bleiben, nie aufzugeben… allen Abweisungen zum Trotz, irgendwann platzt der Knoten!

Allein dieser zweite Band der blauen Werkausgabe zum 100jährigen lohnt die Anschaffung, vermittelt sie doch tiefe Einblicke in jüngste deutsche Gesellschaftsgeschichte – von der Frühzeit der Weimarer Demokratie, der Zeit der Inflation, in die Marie Marcks hineingeboren wurde, bis zur NS-Diktatur, zur bleiernen Adenauer-Nachkriegszeit des Wiederaufbaus und des kollektiven Verdrängens bis hin zur 68er Studentenrevolte und deren Folgen… im Grunde ist dies die Erzählung, wie die Deutschen von der autoritären, obrigkeitshörigen, chauvinistischen Untertanen-Prägung mühselig zu einer liberaleren, weltoffeneren und mehr antiautoritären Haltung gelangten. Eine fortschrittliche Entwicklung, die jetzt angesichts des Heraufziehens eines neuen autoritären Zeitalters (Ralf Dahrendorf) wieder akut bedroht wird.

Resümee: Eine exzellente, facettenreiche, gut ausgewählte und wohl durchkomponierte  Werks-Retrospektive zum 100. Geburtstag. Der blaue Schuber erweist sich bei der Lektüre als Perle, als ein Füllhorn, der es auch Nachgeborenen ermöglicht, die auch im 21. Jahrhundert wieder eigenartig brandaktuelle Marie Marcks neu zu entdecken. Pflichtlektüre für alle Marie Marcks-Freundinnen und -Freunde und solche, die es werden wollen. Gerade in diesen Tagen, da wir den 100. Geburtstag von Marie Marcks (25.August 2022) begehen, wird klar, wie sehr uns die Großmeisterin des politisch Widerständigen fehlt.

 

Martin Frenzel

 

Marie Marcks: Die große Marie Marcks / Zweibändige Werkausgabe (im Schuber), herausgegeben von Antje Kunstmann, erschienen im Verlag Antje Kunstmann, München 2022 /  ISBN: 978-3-95614-520-9448 Seiten, 58,- € (D), lieferbar ab 24. August 2022

Marie Marcks wird 100

 

Marie Marcks (1922 - 2014), besuchte das reformpädagogische Internat Birklehof, Abitur 1941. Sie studierte Architektur in Berlin und Stuttgart, brach ihr Studium 1945 ab, heiratete, übersiedelte nach Heidelberg und begann als freie Grafikerin zu arbeiten. Marcks war zweimal verheiratet und hatte fünf Kinder. Am 7. Dezember 2014 verstarb sie in Heidelberg. 

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