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COMICOSKOP-Comic-Tipp des Monats Februar-März 2015

Little Nemo in Slumberland: Winsor McCays Jahrhundertcomic erscheint in einer international einzigartigen, wuchtigen Prachtausgabe

Eine Rezension von Comicoskop-Redakteur Martin Frenzel

 Eine der berühmtesten Panel-Seiten von Winsor McCays "Little Nemo in Slumberland": Als das Bett des "Kleinen Niemand" plötzlich auf Riesenstelzen durch die Großstadt-Metropolis stakst...

(c) TASCHEN - mit freundl. Genehmigung.

Schon Goya wusste: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Die Kulturgeschichte des Traums gehört zur Menschheitsgeschichte. Schon in der antiken Literatur spielen Träume - siehe Gilgamesch-Epos oder die Epen Homers - eine Schlüsselrolle...

Er war wohl der innovativste, umfassendste Traumdeuter des grafischen Erzählens und visionärste, kühnste Comic-Künstler seiner Zeit: Der US-Amerikaner Winsor McCay (1871 – 1934), ein Tausendsassa im besten Sinne des Wortes. Und dies, lange bevor das Wort Multimedia-Künstler überhaupt in Mode kam. Und er schuf einen absoluten Meilenstein der Comic-Geschichte des 20. Jahrhunderts: Die fantastischen, surrealen und grafisch ganz der Kunstströmung des Art Deco und des Jugendstils verpflichteten traumhaften Abenteuer des Kleinen Niemand – „Little Nemo in Slumberland“ (Little Nemo im Schlummerland).

Vor genau 110 Jahren, am 15. Oktober des Jahres 1905, erschien Winsor McCays definitives opus magnum Little Nemo -sechs Jahre, nachdem der österreichische Arzt Sigmund Freud 1899 seine weltzberühmte "Traumdeutung" veröffentlicht hatte. Jenes Buch, das

zu den meistgelesenen und einflussreichsten Büchern des Zwanzigsten Jahrhunderts gehört.

Nur wenigen Comic-Werken wohnt auch nach über einhundert Jahren ein derartiger Zauber inne wie Winsor McCays "Little Nemo".

"Little Nemo" erschien in dieser ersten Anfangsphase zunächst bis zum 23.April 1911 im „New York Herald“. Vom 30. August 1911 bis 1913 – ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in den 1917 die USA eintreten und sich im Zuge dessen zur Weltmacht mausern werden – lief der Zeitungscomic unter dem neuen Namen „In the Land of Wonderful Dreams“ in der Konkurrenz-Zeitung „New York American.“ Sodann nach elfjähriger Pause ging noch der dritte, letzte Zyklus der Little Nemo-Ära vonstatten – vom 3.August 1924 bis zum 27. Januar 1927.

Little Nemo war wohl der künstlerischste Comic seiner Zeit, der erste herausragende Jugendstilcomic der Welt – so, wie George Herrimans Krazy Kat später der intellektuellste wurde. Wenn der Comic schon früh, zu Beginn des 20.Jahrhunderts Anspruch darauf erhob, neunte Kunst zu sein, dann nicht zuletzt seinetwegen.

So, wie in Asterix immer wieder das Piratenschiff versenkt wird, wussten die Leserinnen und Leser dieses ungemein poetischen, aber auch tiefsinnigen Comic-Gesamtkunstwerks Little Nemo, dass am Ende jeder Seite ihr Held Nemo unsanft durch den Weckruf der Mama aus seinen mal fantastischen, mal abgründigen Traum-Reisen gerissen würde: „Nemo, wach auf, Du hast nur geträumt...“

Schon Sigmund Freud wusste: „Der Traum ist der königliche Weg zu unserer Seele.“


 Porträtfoto Winsor McCays

Foto: (c) TASCHEN 2014

Nemo war ein Schlafwandler der anderen Art: Er wandelte nicht selbst, wie herkömmliche Schlafwandler im Pyjama umher, sondern tauchte umso ungezügelter in die Untiefen seiner Ängste und Träume ab. Auf der Suche nach dem Königsweg der Seele...

Die Abenteuer des Kleinen Nemo im Schlafanzug sind eine zeitlose Hommage an einen kleinen Träumer, aber letztlich eine Ode auf die Macht der Fantasie, der Träume und Alpträume. Winsor McCays kleiner Held beeinflusste zahlreiche Künstler wie Robert Crumb, Moebius und Frederico Fellini. Was wäre wohl ein Saint-Exupéry mit seinem Kleinen Prinzen von 1943 ohne das heimliche Vorbild Little Nemo gewesen?

Manch einer mag sich noch an die S.Fischer-Taschenbücher zu „Little Nemo“ Mitte der 1970er Jahre erinnern. Oder an die Melzer-Ausgabe Anfang der 1980er Jahre. Der Autor erinnert sich auch noch gut an die fulminante Little Nemo-Ausstellung des französischen Comic-Festivals in Angoulême 1989.

Der Bonner Kunsthistoriker Alexander Braun – der sich 2012/13 mit einer umfassenden Retrospektive der Werke Winsor McCays hoch verdient gemacht hat (die Wanderausstellung war in mehreren deutschen Städten zu sehen und war mehr als sehenswert) - gibt nun die voluminöse, wuchtige, exzellent edierte 708seitige Little Nemo-Gesamtausgabe heraus – in einer bibliophilen, sorgfältig gedruckten und bearbeiteten Jumbo-Ausgabe des Kölner Taschen Verlags. Zum ersten Mal sind damit sämtliche 549 Folgen von Little Nemo der ganzseitigen, farbigen US-Sonntagsseiten vereint. Und das bei einem Schwergewicht von exakt 8312 Gramm.


Bild oben: Seite des Vorläufer-Comics "Dream of the Rarebit Fiend"

Abbildung: (c) TASCHEN VERLAG 2015

Allein das macht dieses wuchtige Werk zu einem Unikum.

(c) TASCHEN 2014 / Mit freundl. Genehmigung

Dank dieser mustergültigen Edition erleben wir den Jahrhundert-Klassiker von Neuem – Nemos Suche nach dem sagenumwobenen "Schlummerland", dem Reich König Morpheus, nach dessen Tochter, der Prinzessin, wir begegnen Flip, dem clownesken Gnom mit grünem Gesicht, und dem farbigen Impie im Bastrock wieder, wir wiedersehen die berühmte Szene, als Little Nemos Bett auf einmal Füße wachsen, es auf Riesen-Stelzen durch die Großstadt-Metropole New York stakst, staunen über eine Welt zwischen Drachen, Elefanten Unterwasser-Ungeheuern, Riesen-Pilzen und dem Flug zum so menschenähnlichen Mars... Ausgefeilte, noch heute atemberaubende Jugendstilkunst trifft bei Winsor McCays auf Sigmund Freuds Psychoanalyse und Traumdeutung: McCay hat mit Little Nemo ein Universum geschaffen, das seinesgleichen sucht...

Schon in der Antike schrieb man Träumen eine göttliche und eine dämonische Dimension zu... Winsor McCay spielt virtuos auf diesem Klavier mit diesen Ambivalenzen... und bei Little Nemos "Mars-Abenteuer hält er uns Menschen der Moderne den entlarvenden Spiegel vor...

 


Winsor McCays Vorläuferserie "Little Sammy Sneeze" (c) TASCHEN VERLAG 2015


Grafisch gesehen ist das Betrachten der Little Nemo noch immer ein Hochgenuss: dekorativ geschwungene Linie, ornamentale Manierismen, kühne Architektur und Perspektiven... Winsor McCays eigensinnige Bildersprache macht „Little Nemo“ zum Klassiker mit unbegrenzter Haltbarkeit.

McCay war nicht nur ein Meister des grafischen Erzählens, der bei Panelaufteilung, Perspektiven, Timing und Erzählebenen und sagenhaften Architektur-Kulissen Maßstäbe zu setzen wusste, sondern er begab sich mit seinem Comic-Opus auch aufs zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannte Terrain seelischer Abgründe... Wohl auch deswegen, weil sein eigener Bruder, nach dem, was wir heute wissen, an einer psychischen Erkrankung litt und von den Eltern in einer psychiatrischen Klinik verbracht wurde.


(c) TASCHEN VERLAG 2015


Winsor McCays vereint in Little Nemo die Tradition des großen Abenteuerromans eines Jules Verne aus dem 19. Jahrhundert mit der Moderne, wie sie die Kunstströmungen des Art Decos, des Jugendstils und des Surrealismus im 20.Jahrhundert verkörperten... Er war aber auch ein Kind des Illusionstheaters...des Vaudeville-Theaters, einer, der das groteske Spiel zwischen Damen ohne Unterleib und Zerrspiegeln auf den Comic übertrug. Und er war wohl der erste Crossover-Künstler Amerikas – operierend zwischen Comic, Zeichentrickfilm, Varieté und klassischem Theater, Cartoon und Karikatur, politischen Journalismus, zwischen Magie, Fiktion, Traum und Wirklichkeit, aber auch zwischen Philosophie und Psychologie, Bildender Kunst und Literatur...

Und doch birgt „Little Nemo“ auch 110 Jahre nach dem ersten Erscheinen etwas Bizarr-Rätselhaftes, Skurriles und Geheimnisvolles... Winsor McCay ist – und das mag die bis heute anhaltenden Faszination erklären – ein Comic-Werk mit sieben Siegeln gelungen...

Ganz im Sinne C.G. Jungs, der einmal schrieb: »Nicht wir haben Geheimnisse, die wirklichen Geheimnisse haben uns!«






























(c) TASCHEN 2014 / Mit freundl. Genehmigung

Schon 1904 hatte McCay – ein Jahr vor Beginn seines Little Nemos – zwei Comic-Serien lanciert, die beide Träume und Alpträume zum Thema machten - Dreams of a Rarebit Fiend („Die sonderbaren Träume des Feinschmeckers, der immer nur Käsetoast aß“) und „Little Sammy Sneeze“. Auf die Idee, dass das Vertilgen gebackener Käsebrote Alpträume evoziert, muss man erst mal kommen. Manchen reicht auch das Gucken blutrünstiger Schweden-Krimis spätnachts.

Die rundum empfehlenswerte Little-Nemo-Gesamtausgabe wird ergänzt durch ein gleichzeitig in je deutscher, englischer und französischer Sprache vorliegendes Übersetzungsbeiheft und einen ausführlichen, kenntnisreichen und profunden 140seitigen Begleittext des Kunsthistorikers und Comicforschers Alexander Braun – angereichert durch zahlreiche Fotos, unbekannte Bilder und Dokumente.

Wie prägend Winsor McCays Werk bis tief ins 20.Jahrhundert war, zeigt nicht zuletzt die wunderbare Hommage des belgischen Comic-Zeichners Hermann (Huppen): Der widmete einen seiner raren Kindercomics "Nic" (1981-83) im Comic-Magazin "Spirou" dem großen Fin-de-Siècle-Vorbild.

Fazit: Trotz des hohen Preises verdient diese rundum lobenswerte Edition das Prädikat „Besonders wertvoll“.

Ein Wunsch: Dass es irgendwann einmal dann wieder eine erschwingliche Little Nemo-“Volksausgabe“ geben möge.

Nach der Lektüre steht allemal auch fürs digital vernetzte 21. Jahrhundert fest: Nicht wir haben Little Nemo, sondern Little Nemo hat uns!

 


 


(c) TASCHEN VERLAG 2015

TASCHEN

Winsor McCays LITTLE NEMO - Gesamtausgabe

Alexander Braun

Hardcover, in Leinen gebunden

708 Seiten

150 Euro

 

 

 

Cover: (c) TASCHEN 2015

COMICOSKOP-Herausgeber, -Gründer und -Chefredakteur: Martin Frenzel, seit 1981 als Comicforscher aktiv. Spezialgebiete: US-amerikanische Klassiker, frankobelgische Comic-Kultur, deutsche Comic-Geschichte nach 1945, skandinavische (insbesondere dänische) Comic-Kultur. Arbeitet an einer Doktorarbeit über Politik im Comic.

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