Cover der Comic-Saga "Der Araber von morgen" aus der Feder Riad Sattoufs / Bild: (c) Knaus Verlag, München
2015
200 Jahre nach Goethes „West-Östlichem Diwan“ entführt uns der neue Shooting Star der französischen Comic-Szene, Riad Sattouf,
in den Orient. Er wagt dies aber keineswegs, um dem Zauber von „1000 und einer Nacht“ und Scheherazade zu huldigen. Tatsächlich nimmt uns der Autor mit auf eine doppelte Reise: Zum einen eine inneren
Zeitreise zurück in die frühen 1980er Jahre, in die eigene frühe Kindheit, zum anderen aber auf eine äußere Reise durch den Maghreb – von Frankreich nach Libyen – bis in den Orient (nach Syrien).
Eine Reise in zwischen Traditionalismen und Moderne hin- und her schwankenden Tabu-Gesellschaften.
Und schließlich ist es eine Reise zwischen den Sphären der westlich-europäisch-christlichen Kultur und der arabisch-islamischen Kultur… deren gemeinsames kulturelles Band heutzutage fast vergessen scheint (wozu beide Seiten eifrig beitragen). Und obwohl Riad Sattouf im Rückblick eigentlich über scheinbar Gestriges erzählt, gelingt es ihm verblüffend gut, die Gegenwart dieser Vergangenheit zu zeigen. In Sattoufs doppelter Reise geht, um Georg Büchner zu zitieren, ein Riss durch die Welt – innerhalb der arabischen Länder, aber auch und gerade zwischen Abendland und Morgenland. Ein tiefer Riss, den zu überwinden in Zeiten von Syrien-Krieg, Islamismus-Gefahr und Isis-Terror – so unendlich schwer scheint – wo doch davon unser aller Zukunft abhängt…
Der persisch-mystische Denker und Lyriker Hafez des
Spätmittelalters wusste schon: „Durch Wissen kommt der Mensch zur
Menschlichkeit.“ Bildung, Wissen, Aufklärung für alle – all das erscheint aber auf dieser Reise der Familie Sattouf durch Maghreb und Nahost, mitten hinein die Vergangenheit von Ghaddafi- und Assad-Land (und lange vor dem allzu kurzen Arabischen Frühling), absolute Mangelware… Episodenartig wird klar, wie diese Krisenherde der
Jetztzeit – Libyen, Syrien, der Irak, und überhaupt der gesamte arabisch-sunnitische post-koloniale Raum des Nahen Ostens sowie der Sonderfall des schiitisch geprägten Persien / Iran unsere Wirklichkeit prägen, wie schon damals alles aus den Fugen geriet.
Das französische Magazin „Le Point“ lobte Sattoufs Comic-Erzählung denn auch zu Recht, sie sei: „zugleich eine Familien-Tragikomödie und die Erzählung über das Schicksal der arabischen Welt der letzten dreißig Jahre.“
Schon der erste Satz zeigt, dass Riad Sattouf uns etwas
zu erzählen weiß: „Ich heiße Riad. 1980 war ich zwei Jahre alt und bereits ein ganzer Kerl.“ Der Autor beginnt seine autobiografisch inspirierte Geschichte mit der Begegnung seiner Eltern im Frankreich der späten 1970er Jahre an der Sorbonne – die aus der Bretagne stammenden Französin Clémentine und der Exil-Syrier und Geschichtsdoktorand Abdel-Razak…
Es ist wahrlich keine Liebe auf den ersten Blick, aber schon bald ist sie
schwanger, der kleine blondgelockte Riad unterwegs.
Stur wie er nun mal ist, zerrt der Vater, der apodiktisch der Idee des sunnitisch dominierten Panarabismus frönt (im Zuge dessen etwa schiitisch gesinnte Muslime wie jene im Iran in die Röhre gucken) und Diktatoren verherrlicht, seine kleine franco-syrische Familie ins Libyen des Muammar al-Gaddafi (1942 - 2011) – und Riad schildert mal urkomisch, mal tragikomisch den Alltag im autoritär-„sozialistischen“ Wüstenstaat… und wie sich sein obrigkeitshöriger, sunnitisch-arabisch gesinnter Vater die triste Lage gesundbetet… Kein Wunder, dass der kleine Riad nächtens von surrealen Alpträumen heimgesucht wird, in dem Wüstenstiere plötzlich lebendig werden…
Ideologischer Anspruch und trostlose Wirklichkeit klaffen allenthalben weit auseinander. Oft sind es Potemkinsche Dörfer. Die Reise geht weiter – und endet in diesem ersten Band im Syrien Hafiz al-Assads (1930 - 2000) und seiner Baath-Partei, der "Arabischen Sozialistischen Partei der Wiedererweckung"… und hier erleben wir nicht zuletzt die sittenstrenge, islamisch-konservative Familie des Vaters… die Einzige, die mit ihrer stoischen Art offenkundig dort noch alle Tassen im Schrank zu haben scheint, ist die alte muslimische Mama von Riads Vater…. Die mit ihrer herzlichen Art versucht Unvereinbares miteinander zu vereinbaren….
Das erste arabisch-syrische Wort, das der kleine Antiheld lernt, heißt Yehuda – „Du Jude Du!“… Mal zieht der Autor die bizarre Tatsache durch den Kakao, dass man in Syrien die Kinder – die Gehirnwäsche und Alltags-Manipulation auf die Spitze treibend – aufs Feindbild Nummer Eins trimmen, mit Spielzeug-Soldaten spielen lässt, die die syrische Armee als heroisch, „den jüdischen Feind“ hingegen (gemeint ist wohl die einzige pluralistische, freie Demokratie des Nahen Ostens, Israel) als angeblich „feige, hinterlistig und verschlagen“ (einer dieser Plastiksoldaten en miniature hisst nach außen hin die weiße Fahne, hält aber hinter seinem Rücken einen Dolch…).
Die „jüdischen“ Figuren sind denn auch so gebaut, dass sie, wie Riad entgeistert feststellt, immer auf der Verliererseite stehen. Ein andermal zeigt er, wie Jugendliche einen als „unrein“ geltenden
Hund brutal misshandeln, schließlich bei lebendigem Leib aufspießen.
Auch ist die junge Familie Sattouf in Libyen niemals sicher, die nächste Nacht noch in der eigene Wohnung zu schlafen: In Ghaddafi-Land gilt die Devise „Wohnraum für alle“ dergestalt, dass Wohnungen nicht verschlossen werden dürfen – und wenn sie leer und unbewacht sind, praktisch von jedermann vereinnahmt werden dürfen… Riads Mutter soll beim französischsprachigen Propagandasender des libyschen Regimes Jubel-„Nachrichten“ verlesen (Zitat: „Oberst Ghaddafi hat heute erklärt, dass die Provokationen der westlichen Hunde nicht ohne Antwort bleiben dürften... dass die libysche Armee sich bereit halte, um jeden Moment die Hure Amerikas anzugreifen und ihr an die Gurgel zu gehen... nicht zögern, den Atlantik zu überqueren, um in Amerika einzufallen und den Hundesohn Reagan zu töten, der... der... Entschuldigung... Der... pffff...der pardonpfffff Hi! Hi! Hi! Hi Hiiiiiii! Ha! Ha! Ha! Ha! Ha! Ha!")……..“) und bekommt live einen nicht enden wollenden Lachanfall…
Papa Riad hat alle Mühe, sich schützend vor seine Frau und die Familie stellen und die Häscher Ghaddafis abzuwimmeln… Der Vater hält dennoch unverdrossen an seinem Idealbild des Panarabismus fest: „Wenn die Araber erst einmal gebildet sind, werden sie sich selbst von den alten Diktatoren befreien“. Seine Französische Frau Clementine erwidert trocken: „Und was kommt dann? Junge Diktatoren?“
„Der Araber von morgen“ – das ist nicht zuletzt auch
eine Suche nach den eigenen Wurzeln: Sattouf hat in Interviews über seine Vater gesagt, dieser habe zwar einerseits studiert, sei westlich gebildet, zugleich habe er aber lange die Demokratie verdammt, die Todesstrafe befürwortet, sich die Potemkinschen Dörfer autoritärer, die Menschenrechte mit Füße tretender arabischer Regimes schöngeredet… Das ist wie jemand, der eigentlich über den eigenen Tellerrand hinausschauen könnte, es aber nicht tut, weil er es partout nicht
schafft, sich von alten Geistern zu befreien. Sattouf schildert seine Kindheit und Jugend mit viel Chuzpe, Mutterwitz und Ironie, grafisch setzt er dabei auf die Methode Hergé: Eigentlich (tod-) ernste, tragikomische Inhalte transportiert Sattouf mit Zeichnungen in der Manier des Skurrilen, die sich ans Humorgenre des grafischen Erzählens anlehnen. Satoufs eigentlich schwarz-weiße, stark karikierende Humor-Zeichnungen wimmeln nur so voll liebevoller Details. Sein facettenreicher Wort- und Bild-Witz
birgt eine Fülle von Anspielungen und hält sich akribisch ans syrische
Sprichwort: „Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist.“
Selbst unterschiedliche Gerüche spielen bei Sattouf eine
wichtige Rolle: Das Parfüm der französischen Oma mütterlicherseits, der Schweißgeruch seiner arabisch-syrischen Oma väterlicherseits.
Farbenspiele unterstreichen die Reise Riad Satoufs durch stark
auseinanderdriftende Welten, hie Okzident, dort Orient: Es ist dies eine
Tricolore der ganz anderen Satoufschen Art – so kommt Frankreich, das gelobte Exil, bei Riad Sattouf zwar in blauen Farben daher, Libyen jedoch in Sand-Goldgelb, Syrien in Rosarot, zuweilen, wenn
die beiden Diktatoren Ghaddafi und Assad aus dem Fernseher hervorlugen, sogar in Knallrot (Assad) und Dunkelgrün (Ghaddafi)… Riad Satouffs Farbenlehre jedenfalls symbolisiert alles andere als den Blick durch die rosarote Brille… Wir Leserinnen und Leser erfahren hier – nicht nur dank des kleinen Riads, sondern auch dank eines unsichtbaren Off-Erzählers – eine Menge über den Alltag im
„sozialistischen“ Libyen Ghaddafis, als dieser – lange vor seinem grausamen Sturz - noch fest im Berber-Sattel saß, und mit Blick auf Assads Syrien (lange vor jenem brutalen Bürgerkrieg, der die
Region bis heute in Atem hält) – und dies alles aus dem Blickwinkel eines blonden Knirpses, Spross einer Französin und eines Exil-Syrers. Der Clash of Zivilisation, der Aufeinanderprall der Kulturen, von dem der US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington einst sprach, wird deutlich durch die innere Zerrissenheit des kleinen Riad. Er leidet unter dem autoritär-obrigkeitshörigen Gehabe des muslimischen Vater ebenso wie unter den Anfeindungen als „Jude“ durch seine Spielkameraden in Syrien…
Wir wundern uns, wenn wir lesen, dass Ghaddafis Propaganda (die auf Riads Vater mächtig Wirkung ausübt) als „fortschrittlichstes Land“ der Welt preist – dies aber nicht mit dem in Einklang steht, was Klein-Riad im Alltag von Tripolis & Co erlebt… Wir lernen: Nicht jeder, der einen Bart trägt, ist schon ein Prophet (arabisches Sprichwort). Am Ende entlarvt der kindliche Blick die Burleske: Die Potentaten und rückwärtsgewandten Sitten als lächerliches Operettenspiel.
Dabei gelingt dem Franzosen Riad Sattouf, geboren am 5.
Mai 1978 in Paris als Sohn syrisch-französischer Eltern, en passant etwas ungeheuer Kostbares: Er inszeniert im Wege des grafischen Erzählens einen Dialog wider Willen zwischen den Kulturen und Religionen, wie wir ihn bitter nötig haben, nimmt die Missstände
in der arabischen Welt messerscharf aufs Korn… Das Kind entlarvt, was die Erwachsenen nicht sehen (wollen). Getreu der Devise des syrisch-amerikanischen Dichters Khalil Gibran: „Die Wirklichkeit eines anderen Menschen liegt nicht darin, was er dir offenbart, sondern in dem, was er dir nicht offenbaren kann. Wenn du ihn daher verstehen willst, höre nicht auf das, was er dir sagt, sondern vielmehr auf das, was er dir verschweigt.“
In gewisser Weise schließt Sattouf, der mit L’Arab Futur in seiner Heimat Frankreich einen Bestseller landete, ja, dessen Werk auf
Anhieb den begehrten Titel des „Prix Fauve“ als bester Comic des Jahres auf dem Comic-Festival zu Angoulême im Februar 2015 gewann, mit diesem ersten Band seiner Trilogie „Der Araber von morgen“ ans preisgekrönte opus magnum Marjane Satrapis über den Iran nach dem Sturz des Schahs, „Persepolis“, an, das maßgeblich mithalf, die Graphic Novel-Welle in Europa auszulösen. Sattouf gehört zu eben jener innovativen Autorencomic-Generation, die mit reportage-artigen, häufig biografisch inspirierten Comic-Erzählungen für Aufsehen sorgen: Dazu gehören Künstler wie die in Paris lebende Marjane Satrapi, David B. (Geliebte Feinde) oder auch der Franco-Kanadier Guy Deslisle
(„Jerusalem“) oder auch Maximillien LeRoy… Seit 2002 teilt sich der Künstler ein Pariser Atelier mit Christophe Blain, Joann Sfar und Mathieu Sapieu – und gehört damit zur innovativen Generation rund um den Independent-Verlag L’Association.
Von 2004 bis 2014 zeichnete der Comic-Zeichner, Musiker
und Filmemacher Riad Sattouf jede Woche fürs Satireblatt “Charlie Hebdo” eine Folge seines Satire-Comics „La Vie Secrète des Jeunes“ (dt. “Das geheime Leben der Jugend”). Für seinen ersten Film Les Beau Gosses heimste er den französischen Film-Oskar, den „Cèsar“, als „bester Film“ ein.
Beim Verlag von Fluide Glacial erschien seine 2005 entstandene Satire-Comicserie „Pascal Brutal“. Bereits 2004 erschien “Meine Beschneidung”
als “Ma Circoncision” (später in weiteren Versionen), auf Deutsch bei Reprodukt Berlin.
Spannend ist der Vergleich Sattouf – Satrapi nicht nur, weil Satouf als der klar bessere Zeichner abschneidet; er ergänzt die
weiblich-iranische Perspektive nun, längst überfällig, um die
männlich-arabische Perspektive des kleinen Jungen, der mit staunenden, scheinbar „naiven“, in Wahrheit aber sehr altklugen Kinderaugen den Wirren der Länder entgegentritt, in denen heute der Arabische Frühling längst passé, der Krieg, die nackte Gewalt und das Massenmorden aber noch traurige Realität sind.
Der Araber von morgen stellt eine gelungene, auf viel
Humor, oft subtile Ironie und Anspielung setzende Comic-Mehrebenen-Erzählung dar. Es gelingt Sattouf eine Abrechnung mit dem gescheiterten Projekt einer aufgeklärten arabischen Moderne, wie sie etwa der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi („Euro-Islam“) und Hamid Reza Youssefi („Islamische Philosophie“ und „interkulturelle Kommunikation“) vertreten: Hie der Vater-Sohn-Konflikt, dort der Konflikt der Kulturen, die zwei Seelen in der
Brust, vor allem aber: Dass schon damals die Wirklichkeitswahrnehmung, je nach kulturell-religiöser Herkunft, denkbar weit auseinander klafften… Riad Sattouf ergänzt – und das ist sein Verdienst – den rein euro-zentristischen Blick um den arabischen Standpunkt, auch wenn der häufig von ideologischer Propaganda, islamischem Traditionalismus und fragwürdigen Rollenmustern zwischen Mann und Frau geprägt ist. Frauen erfahren wir mit Schaudern, essen im Syrien jener Jahren, nicht nur getrennt von den
Männern, sondern das, was die Männer an Resten (abgegessene Knochen etc.) übriglassen…
Das Multitalent Riad Sattouf hat jetzt noch einen Film
gedreht, „Jacky im Königreich der Frauen“ – ein fiktives Land (irgendwo
zwischen Kalifat und Nordkorea), in dem die Frauen den Spieß umgedreht haben: Eine Amazonen-Diktatur, das totale Matriachat, die Männer werden systematisch unterdrückt, die Frauen haben das Sagen… die Herrn der Schöpfung müssen Küchendienst leisten, „heilige“ Esel anbeten… eine Art französische Monty Python-Variante…
In der Darstellung der Wechselwirkung zwischen den
beiden Heimaten des kleinen Helden – Frankreich und die arabische Welt Libyens und Syriens – ist „Der Araber von morgen“ am Ende ein ausgesprochen französischer Comic.
Ein Comic, der die Gegenwartsprobleme und –konflikte der französischen Einwanderungsgesellschaft zwischen Rassismus, Rechtsextremismus des Front National und gewaltbereitem Islamismus und gleich von zwei Seiten hemmungslos entfesselter Judenfeindschaft wunderbar einfängt. Aber gerade weil dieser Comic
so spezifisch Französisch ist, hätte man sich doch ein kommentierendes, den Kontext ausleuchtendes Nachwort des deutschen Verlags gewünscht. Auch und gerade im Zeichen des Pariser Charlie Hebdo-Attentats vom 7. Januar 2015.
Setzt Sattoufs Bildgeschichte doch ein enormes historisch-gesellschaftspolitisches Vor-Wissen über Geschichte, Kultur und Lage des Nahen Ostens voraus, um den ganzen Witz zu
verstehen. In Frankreich ist die arabische Welt traditionell – auch wegen des französischen Kolonialismus in Nordafrika und der daraus resultierenden starken Einwanderung – sehr viel stärker präsent als bei uns. Dabei geht es doch genau darum: Um Nähe und Distanz, jahrzehntelange Minderwertigkeitskomplexe, Kränkungen, Allmachts- und Ohnmachtsgefühle… Wer nur auf das Äußere seiner Zeichnungen blickt, gelangt nicht zum Tiefsinn der hier erzählten Geschichte.
Dieser Auftaktband der angekündigten Trilogie „Araber
von morgen“ macht Lust auf mehr: Wie wird Sattouf, der die Ablösung vom autoritätsgläubigen Vater nicht zuletzt durch seine langjährige Mitarbeit für die radikal-laizistische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ vollzog, wohl die weitere Entwicklung u.a. in seiner nächsten Station (dem revolutionären Algerien) nachzeichnen?
Keine Frage: Sattouf hat seinen Goscinny („Die Abenteuer des kleinen Nick“) gelesen, er weiß um den anarchischen, entwaffnenden Zauber
der Knirps-Perspektive in Lauf der Geschichte des Comics – von Winsor McCays „Little Nemo“, Outcaults „Yellow Kid“ und Rudolph Dirks „Katzenjammer Kids“ über Sempés und Goscinnys „Petit Nicolas“ bis hin
zu Bill Watersons „Calvin & Hobbes“…
Das, was seinen „Araber von morgen“ so absolut eigen macht, ist das subtile „Zwischen-den-Kulturen“-Moment der Handlung, sind die
eigenen, nicht selten abstrusen Alltags-Erlebnisse, an denen er uns teilhaben lässt. Der kleine Alltag gerät zum Seismografen für die große Politik. Die arabische Welt von heute, so Riad Sattoufs heimliches Credo, können wir nur kennen, wenn die arabische Welt von gestern kennen…. So, wie wir Satrapis Iran-Bild von Khomeini bis heute nur verstehen, wenn wir wissen, wer Mossadegh und wie Rolle des CIA war… Der arabische Traum des Vaters entpuppt sich nachgerade als
arabischer Alptraum.
„Der Kampf der Kulturen existiert doch nur in den Köpfen von Ideologen“, sagt Riad Sattouf im ZDF Aspekte-Interview. Im Gegenteil seien sich das Frankreich der 1950er Jahre und das Libyen der 1980er Jahre paradoxer Weise gar nicht mal so unähnlich…statt dessen erzählt Riad Sattouf lieber vom Chaos der Kulturen, von Ansprüchen und deren Scheitern in der Wirklichkeit, vom Komischen zwischen den Kulturen… Er spielt gekonnt auf dem Klavier eines Zarathustra, von dem der weise Satz stammt: „In jedem Anfang liegt schon das Ende.“
FAZ-Redakteur und Comic-Kenner Andreas Platthaus hat den ersten Band der Sattoufschen Saga in gekonnter Weise ins Deutsche übertragen.
Fazit: Eine gelungene, mal komische, mal bizarre Comic-Erzählung der anderen Art, die man gelesen haben muss; ein empfehlenswertes
Panoptikum dessen, was wir heute unter den Begriff „Krisenherd Nahost“ fassen, voll aus den Abgründen des Alltagslebens gegriffen, treffsicher, sehr komisch-ironisch, manchmal grotesk und stets erfrischend anti-autoritär – kurz: einfach wunderbar… Prädikat:
Besonders wertvoll!
Martin Frenzel
Riad Sattouf bei der Preisverleihung im Theater von Angoulême, Februar 2015 / Foto: (c) Martin Frenzel/ Comicoskop 2015.
Riad Sattouf, geboren 1978 in Paris, ist ein französischer Comic-Zeichner, Musiker und Filmemacher. Aufgewachsen in Libyen und Syrien, kehrte er mit 13 Jahren nach Frankreich zurück. Er studierte Animation und wurde bald zu einem der bekanntesten zeitgenössischen Comic-Künstler. Von 2004 bis 2014 zeichnete er wöchentlich den Comic „La Vie secrète des jeunes“ für Charlie Hebdo. Sattouf wurde u.a. mit dem Prix René Goscinny und dem César für den besten Erstlingsfilm („Jungs bleiben Jungs“) ausgezeichnet.
„Der Araber von morgen" gewann den Grand Prix RTL de la Bande Dessinée und den Fauve d'or („bester Comic des Jahres 2014“) beim 42. Comicfestival von Angoulême im Januar 2015. Er lebt und arbeitet in Paris.
Riad Sattouf
Der Araber von morgen
Eine Kindheit im Nahen Osten
(1978-1984), Graphic Novel
Originaltitel: L'Arabe Du Futur. Une
Jeunesse auf Moyen Orient (1978-1984)
Originalverlag: Allary Editions
Aus dem Französischen von Andreas Platthaus
Paperback, Klappenbroschur, 160 Seiten,
Graphic Novel
ISBN: 978-3-8135-0666-2
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 26,90 *
Verlag: Knaus Verlag München 2015
COMICOSKOP-Herausgeber, -Gründer und -Chefredakteur: Martin Frenzel, seit 1981 als Comicforscher
aktiv. Spezialgebiete: US-amerikanische Klassiker, frankobelgische Comic-Kultur, deutsche Comic-Geschichte nach 1945, skandinavische (insbesondere dänische) Comic-Kultur. Arbeitet an
einer Doktorarbeit über Politik im Comic.
„Die wahre Geschichte eines blonden Jungen zwischen
arabischer und westlicher Welt“ hat der in Frankreich geborene Comic-Künstler aufgezeichnet, für die Jahre 1978-1984 als „eine Kindheit im Nahen Osten“.
Geboren als Sohn eines seinerzeit in Frankreich lebenden und studierenden Syrers und einer Französin hat er einen Großteil der Kindheit in Libyen und dann in Syrien gelebt, als höchst auffälliger blonder Lockenkopf, begeistert bejubelt von den verschleierten Frauen (Müttern!), misstrauisch beäugt von den Männern – und mittendrin als Fleisch gewordenes Feindbild „Israel“ bis hin zu antisemitischen Parolen.
Wenig subtil nimmt der Autor (und Zeichner, dessen
Talent schon früh erkennbar wird, wenn er etwa Vaters Wunsch-Auto Mercedes mit runden Reifen malt, im Gegensatz zum Vorbild mit eckigen „Rädern“ des Vaters …) seine Leser mit in die Welt, die wir Westler in den vergangenen Jahren fast verklärt als jene des „arabischen Frühlings“ meinten erleben zu dürfen.
Bald in der Realität angekommen mit verlängertem Bürgerkrieg in Syrien, der (wie im von US & Co. in Irak hinterlassenden Durcheinander) u.a. zum IS geführt hat. „Der Araber von morgen“, so sieht sich Riads Vater, der hin und her gerissen ist zwischen Islam, den er eher säkular auslebt, und westlicher Kultur. Gehört er doch zur Elite, die im Westen studiert hat und umgarnt wird, zunächst von Gaddafi, dann in Syrien:
Er verdient viel, muss aber sich stärker integrieren ins System als er möchte, etwa nach seiner Rückkehr nach Syrien – die Familie vereinnahmt ihn rasch. Überraschend, wie stark die Mutter sich in die Rolle von „Heim und Herd“ drängen lässt, jedenfalls hat Riad das wohl so erlebt und erinnert. So wird stark nachvollziehbar, wie schwer sich Menschen in arabischen Staaten tun mögen, einerseits die Wurzeln ihrer (meist islamischen) Geschichte und Kultur behalten zu wollen, andererseits in eine moderne Welt zu wechseln, weg von
bisherigen Diktatoren. Doch schon bricht alles auseinander, alleine schon Schiiten und Sunniten trennend statt einend …
Pikant nebenbei, dass Riad Sattouf bis 2014 einer der Karikaturisten bei Charlie Hebdo war … Fazit: Ein Comic gegen die Verklärung des "Arabischen Frühlings".
HPR
Comicoskop-Redakteur Hanspeter Reiter.