Eigentlich handelt es sich bei diesem im französischen Original bei Futuropolis erschienenen Comic gerade nicht um eine Katharsis. Auch nicht um eine Metamorphose des langjährigen „Charlie Hebdo“-Hauszeichners und Knapp-Überlebenden Luz alias Rénald Luzier. Da führt der Titel in die Irre.
Vielmehr ist es nicht vom Autor erhoffte seelische Selbstreinigung, die den Leser beim Betrachten dieses klugen, unter die Haut gehenden Gedankenfetzen-Tagebuchs von Beginn an in ihren Bann schlägt, sondern die weibliche Schreckgestalt der griechischen Mythologie, die der blutdürstigen Empusa, die unschuldigen Wanderern in immer neuer Gestalt Angst einjagt... Was Luz uns da bietet, ist sein ganz persönlicher Dämon des Alptraums: Wenn schon Altgriechisch im Titel, dann wäre für diesen autobiografischen Comic der anderen Art, weil er uns zurückführt zu den Ereignissen des Pariser Massakers vom 7. Januar 2015, als die halbe Redaktion des Satireblatts „Charlie Hebdo“ um die Altstars Cabu und Georges Wolinski ausgelöscht wurde, wohl eher das Wort Ephialtes angebracht... Und zwar gerade deswegen, weil er uns teilhaben lässt an den Seelenqualen eines dem Tode knapp, nur durch Zufall Entronnenen. Es geht um ANGST. PANIK. ALPTRÄUME. Die ABGRÜNDE des UNERKLÄRLICHEN, des UNBEGREIFLICHEN. Es handelt sich um einen HORRORTRIP auf der Rutschbahn des eigenen Lebens.
Ephialtes wäre also der bessere Titel gewesen, zumal wir wissen, dass dieser Inbegriff des Albtraums in der Antike, immer beides zugleich beinhaltete – hie das Furchterregende, dort das Erotische.
„Eines Tages“, so schreibt Luz im handgeschriebenen Vorwort zu seinem Buch, „ist mir das Zeichnen abhandengekommen. Am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde.“ Es war dies sein eigener Geburtstag, der 7. Januar 2015.
Sein Buch ist kein Zeugenbericht, auch kein Doku-Comic über das Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion. Vielmehr ist es ein Horrortrip, eine Horror-Picture-Show der anderen Art, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen, Alpträumen und Ängsten, den inneren Dämonen und Stimmen. Auf diesen Höllenritt durchs eigene Unterbewusste nimmt Luz uns gnadenlos mit, er schont, so hat es den Anschein, weder sich selbst noch den Leser.
Es sind die kleine, vieltausendfach aufs Papier gekritzelten kleinen Männchen mit ihren irren, fassungslos ins Grauen der Ereignisse starrenden großen Augen, die den Anfang und das Ende des Buchs markieren. Als seien diese Psycho-Strichmännchen, die Luz am Abend des Attentats im Pariser Sitz der Pariser Kripo auf ein weißes Blatt Papier kritzelt, einem Stepghen King-Hoororfilm entsprungen. Luz arbeitet strikt in Schwarz-Weiß – und oft mit der Farbe Rot, der Farbe des Bluts... Am Ende geraten seine starrenden Männchen in Bewegung, wie seine Lebensgefähretin bemerkt. Alle Kurzgeschichten in „Katharsis“ kreisen um das Trauma: Etwa in der Episode „Ein Traum“, in der Luz krampfhaft in einer Redaktionskonferenz nach seinem Geburtstagskuchen sucht, ihn aber nicht findet, während er ein Gespräch mit den Toten führt, über die Planungsideen fürs nächste Heft...
Während sich die absurde Situation von Panel zu Panel über mehr hochschaukelt, bildet sich eine rote Wunde in Luz' rechtem Auge, wächst immer stärker, als sei ihm die rechte Gesichtshälfte weggeschossen worden... Mal zeigt Lkuz uns Beischlafszenen mit seiner Lebensgefährtin nach dem Terroranschlag – bei denen nicht klar ist, ob das Stöhnen der ineinander verschlungenen Körper aus Wehklagen oder aus Wolllust geschieht. Die Ebenen schieben sich übereinander. „Was war das mit uns, Liebling?“, heißt es am Ende dieser Episode, Antwort: „Wir haben Sperma-Tränen geweint, Liebling!“...
Immer wieder huschen dunkle Schattenmänner übers Bild, maskierte Dschihadisten, Todeskämpfer, die ihren Totentanz aufführen... oder ist es Ballett? Tak-tak-tak-tak....
Oder Luz zeigt uns den Kloss im Bauch, der sich phallusgleich, als zweites Glied gewissermaßen aus seinem Unterbauch lümmelt. Schwarzer Humor auch, wenn der Autor in der Story „Roswell“ angeblich jüdische Verschwörungstheorien durch den Kakao zieht, was ihn beinahe wieder gegenüber einem Islamisten in Lebensgefahr bringt...
In einer Geschichte passiert Luz ein Missgeschick, ein schwarzer Tintenklecks verunstaltet das Papier, ein Imman tritt hinzu, fragt, was das denn
sei: Etwa der Prophet Mohammed? Luz verneint... lässt den Imman raten, der daraufhin „die Muschi meiner Mutter“ zu erkennen glaubt und darob in Rage gerät... Der Wahnsinn ist das Absurde. In „Das
muss ich Dir erzählen“ führt Luz Gespräche mit seinem toten engen Freund Charb, der bis zur Haarspitze in einer Grube sitzt... Luz erzählt von dessen Beerdigung, dass sie großartig gewesen sei
und man die Internationale gespielt habe... bis plötzlich sein Alter Ego aus der Grube schaut, ihn darüber aufklärt, dass er die ganhze Zeit Selbstgespräche geführt hat... Einen Tag vorm Attentat
erzählt Luz, ob wahr oder unwahr, seiner Psychotherapeutin auf der Couch, während diese das Gesagte eifrig mit tippt, dass er die immergleichen Abläufe seines Geburtstags – des 7. Januar – hasse,
die Gespräche mit der Familie, den Eltern, und sagt: „Ich weiß nicht, warum ich am 6. Januar so traurig bin. Wahrscheinlich ist es die Angst vor der Routine des nächsten Tages...“
Oder das zunächst wie das berühmte Geburtstagsständchen Marylin Monroes für John F. Kennedy („Happy Birthday, Mister President...) im Halbschlaf beginnende Geburtstagsfrühstück im Morgenbett, das übergeht ein eiskaltes Blau und eine in Blutrot gehüllte Ehefrau, als die Nachricht vom Blutbad in der Redaktion durchdringt...
So mäandert Luz in seiner alptraumhaften, oft drastischen Reise durch den eigenen Seelenmüll, in skizzenhaft daherkommenden, scheinbar locker hingworfenem Zeichenstrich, denn auch ständig zwischen genau jenen beiden Polen seiner Obsessionen – den Abgründen der Angst und des Entsetzens einerseits, denen des Sinnlich-Sexuellen andererseits... Auf diese Odyssee der Alpträume nimmt Luz uns mit. Manchmal bis an den Rand des Erträglichen, weil der Autor einkalkuliert haben muss, dass beim Betrachter die gleichen Schreckensbilder maskierter, gnadenloser Kalaschnikoff-Mörder im Kopf ablaufen wie bei ihm selbst. Dass mithin alles, was sich in Sachen 7. Januar 2015 ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, wieder hochkommt.
Luz geht unter die Haut, weil er klarmacht, welch tiefe seelische Verletzungen ein solcher Gewaltakt, ein solcher Massenmord mit sich bringt... Luz hätte uns einen Doku-Comic präsentieren können, der schildert, was geschah. Damit wäre er aber notgedrungen an der Oberfläche des bloßen Fakten-Nacherzählens geblieben. Aber er wählt den ungleich schwierigeren Weg: Er nimmt uns mit ins Reich der eigenen Finsternis, lässt uns zum Miterlebenden werden auf der Achterbahn seiner Alpträume. Genau das ist es, was während der Lektüre von „Katharsis“ das ungemein beklemmende Gefühl des Unter-die-Haut-Gehens erzeugt. »Ich hatte jetzt das Bedürfnis, zu zeigen, wie es in meiner inneren Welt aussieht« , umreißt Luz treffend die Intention seine Bildgeschichte des Schreckens...
Es war paradoxerweise der eigene Geburtstag an genau jenem verhängnisvollen 7. Januar, der Luz knapp das Leben rettete: Weil er mit seiner Frau in den Geburtstag hineinfeierte und wegen seines Wiegenfests verschlief, kam der Zeichner an jenem Morgen des 7. Januar 2015 erst später in die Charlie Hebdo-Redaktion. Das rettete ihm, wie durch ein Wunder, das Leben. Als Luz in der Redaktion eintraf, waren enge Weggefährten und Freunde des Künstlers, vor allem die Kollegen Cabu und Charlie Hebdo-Chefredakteur und -Mentor Charb längst tot. Dass Luz so durch Zufall dem sicheren Tod entging, nennt man wohl Gnade der späten Geburt.
Luz, geboren am 7. Januar 1971 in Tours (Frankreich), begann seine Karriere als Presse- und Satirecomic-Zeichner beim Satireblatt „Charlie Hebdo“, die er nun auf eigenen Wunsch beendet hat, um Abstand zu gewinnen, bereits 1992, vor vierzehn Jahren. Seit 2003 firmiert Luz zudem als Mitarbeiter von Gotlibs Satiremagazin „Fluide Glacial“. Um die Welt ging sein weinender grüner Mohammed auf der Titelseite der Zeitschrift Charlie Hebdo nach dem Massaker: Tout est pardonné! / Alles ist vergeben! Furore machte er auch 2011 mit seinem berühmten islam-satirischen Charlie Hebdo-Cover „100 coups de fouet, si vous n’êtes pas morts de rire!“ („100 Peitschenhiebe, wenn Sie sich nicht totlachen!“)
2010 veröffentlichte Luz seine Sarkozy-Comicsatire Robokozy.
Am Ende dieses erschütternden Selbstversuchs, mit dem Geschehenen und Erlebten irgendwie fertigzuwerden, wird klar: Das Stadium der Katharsis, der inneren Wandlung und seelischen Reinigung hat der Zeichner Luz, haben wohl wir alle noch lange nicht erreicht. Wohl aber hat er den Ephialtes, den nicht enden wollenden, furchterregenden Alptraum des 7. Januar 2015 wie kein Anderer in erzählende, drastisch den Gefühlshaushalt widerspiegelnde Bilder gefasst. Genau das macht diesen bildstarke Reise in die Abgründe des geschundenen Seelenlebens so besonders wertvoll, so lesenswert. Jede und jeder sollte diese Seelenreise lesen, damit der Tod von Cabu, Charb, Wolinski & Co. nicht vergebens war. Am Ende der Luz'schen Leidenstour bleibt Sören Kierkegaards Erkenntnis: Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muß man es vorwärts.
COMICOSKOP-Herausgeber, -Gründer und -Chefredakteur: Martin Frenzel, seit 1981 als Comicforscher aktiv. Spezialgebiete: US-amerikanische Klassiker, frankobelgische Comic-Kultur, deutsche Comic-Geschichte nach 1945, skandinavische (insbesondere dänische) Comic-Kultur. Arbeitet an einer Doktorarbeit über Politik im Comic.
Typisches Beispiel für „Wie man's macht …“: Kaum erschienen,
löste „Katharsis“ eine Flut an Resonanz aus, wirkt höchst polarisierend: Wie Luz denn dazu komme … Ja natürlich sollte er … Wie auch immer, natürlich arbeitet der Zeichner auf, was er aus der Ferne miterleben musste, was auch ihn
fast ergriffen hätte: „Weil Luz am 7. Januar 2015 noch mit seiner Frau seinen Geburtstag feierte, kam er erst in die Redaktion von Charlie Hebdo, als die Attentäter schon auf der Flucht waren. Zeichnen konnte er erst einmal nicht mehr. Mit ›Katharsis‹ kam aber Luz zum Zeichnen zurück.
In Bildern und Texten erzählt er von der Angst und dem Schrecken, von der Zeit danach, als er Charlie Hebdo als Redakteur verließ und herausfinden musste, wie es weitergehen soll: »Ich hatte jetzt das Bedürfnis, zu zeigen, wie es in meiner inneren Welt aussieht.«
Dieses Buch ist überwältigend, von einer erschütternden Offenheit und bei allem von einem befreienden Humor.“
Der ja auch Charlie Hebdo auszeichnet, als Magazin/Medium/Redaktion seit dem Attentat ja auch immer
wieder kontrovers diskutiert: Wohin mit den Spenden? Wie geht es weiter? Wer ist denn nun Eigentümer? Was wollen die eigentlich? Das überstrapazierte Zitat „Nichts ist mehr, wie es einmal war“ ist hier wohl tatsächlich wahr geworden …
Geschichten in Schwarzweiß, Geschichten in Farbe erzählt Luz – besser: beschreibt Luz, mit gelegentlichen Text-Einsprengseln (also „echt“ comicesk?!), meist beim Cartoonigen bleibend, doch über mehrere Seiten Panels aneinander reihend. Und
die Storys selbst?
Nur bei einigen gibt es den direkten Bezug zum schrecklichen
Geschehen das 07. Januar, etwa in der Einstiegs-Geschichte, zu seinem Verhör bei der Polizei. Oder in Tak, tak, tak!, wo er einen grotesken Attentäter-Tanz aufführen lässt: Bei derlei wird deutlich, wie stark der Zeichner dann wirkt, wenn er nur Striche wirken lässt, geradezu puritanisch. Hier: schrecklich ironisch, da besonders … schwungvoll-rhythmisch, mit dem Tak-tak-tak der
Maschinengewehre sich abwechselnd … Gruselig?? Auch „Fürsorgliche Bewachung“ lässt das Beklemmen spüren, das auch – und gerade – im Nachhinein zu einem solchen „Ereignis“ sich auch bei jenen einstellt, die „nur“ von Ferne betroffen
sind … Ansonsten viele Themen rund um Sex und andere menschliche Grundbedürfnisse: Gerade in besonders bedrohlichen Zeiten mag Mensch sich vermehrt auf eher Animalisches zurück ziehen, zumindest darauf besinnen … Womit im Grunde doch wieder alle Panel-Folgen irgendwie mit Charlie Hebdo zu tun haben. Als Cartoon, Graphic-Novel, Comic?! Wie auch immer … ein in der Tat überwältigendes, erschütterndes Buch.
HPR
Hanspeter Reiter (Comicoskop-Kürzel: HPR), Köln,
Mitglied der COMICOSKOP-Autorenredaktion von Beginn an, Jahrgang 1953, Münchner in Köln, Linguist und Werbewirt, Autor diverser Fachbücher und zahlreicher Fachartikel zu Marketing-Themen, Comic-Fan seit Kindesbeinen. Gleich nach dem Abitur noch zuzeiten eines ersten Studiums (VWL, Pädagogik) hat er 1974 eine Studie zum Lese-Verhalten von Gymnasiasten realisiert, Fokus: Comics. Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Comixene" veröffentlicht. Eigentlich Berater und Trainer rund ums Marketing im Hauptberuf, findet er nun zu seinem frühen Interesse zurück und wird erneut Comics in den Fokus nehmen. Die kamen auch schon in einigen seiner Artikel fürs Verlagshandbuch „zu Wort“ (www.input-verlag.de). www.dialogprofi.de. Kümmert sich beim COMICOSKOP nicht zuletzt um Deutsche Comics, deren Geschichte, aktuelle Rezensionen und News, Graphic Novels.