Lothar Dräger schuf die „Abrafaxe“ zur Jahreswende 1975/76 nach dem Bruch mit Digedags-Schöpfer Hannes Hegen mit dem FDJ-Verlag Junge Welt: So entstand zu den Zeichnungen der Grafikerin Lona Rietschel die erfolgreiche Nachfolgeserie
„Die Abrafaxe“. Im Zuge des Weggangs von Hegen avancierte Dräger den auch zum Künstlerischen Leiter des Mosaiks – und
blieb es bis zu seiner Pensionierung.
Mit seiner klassischen Bildung und seinem enzyklopädischen Wissen, gepaart mit urwüchsigem Humor, hat Dräger das Bild des Comics als Dramaturg und Texter entscheidend mit geprägt, so der Tenor seines Hausverlags Mosaik Steinchen für Steinchen.
Eigentlich war Dräger, der am 19. Januar 1927 im
östlichen Mecklenburg-Vorpommern (in Schwennenz) in der Nähe Stettins geboren wurde, gelernter Opernsänger – ähnlich wie der Belgier Edgar Pierre Jacobs.
Er ließ sich als Opernsänger ausbilden, kam zunächst ins
thüringische Nordhausen, dann ans Hans-Otto-Theater in Potsdam. Dort aber verkrachte sich Dräger mit den Chefs - 1957 entdeckte er eine Stellenanzeige in der Wochenzeitung "Sonntag" und bewarb sich bei "Mosaik". Dank Dräger entwickelte sich das DDR-Comicmagazin „Mosaik“ (anders als „Atze“ und „Frösi“ schon zu DDR-Zeiten das einzig lesbare Comicmagazin der DDR) dann „zu einem Puzzle aus Hunderten versteckten, zu verschlüsselnden Anspielungen und Zitate“, heißt es in der Verlagsmitteilung. Dräger wusste viel, wusste sich aber auch zu helfen, wenn er heimlich der akribischen Recherche wegen Kopien der verpönten US-Zeitschrift „National Geographic“ beschaffen ließ.
Zusammen mit Hegen ersann er die Abenteuer der Digedags, trug so wesentlich zum Erfolg dieser Serie bei. Hannes Hegen, geboren 1925, hatte studiert, an der Staatsfachschule für Kunstglasindustrie Steinschönau, der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Im Dezember 1955 erschien Hegens erstes Bildergeschichtenheft. Das war der Beginn der Digedagsmania in der DDR: In 223 Bildgeschichten-Heften entwickelten Hannes Hegen und Lothar Dräger bis zum Jahre 1975 das Digedags-Universum...Nur die allerersten Mosaik-Ausgaben wurden von Hannes Hegen allein gestaltet. Das darauf folgende Gros der Mosaik-Ausgaben schuf Hegen gemeinsam mit dem dem Mosaik-Kollektiv, dem allen voran der Texter Lothar Dräger, aber auch Horst Boche, die spätere Abrafaxe-Zeichnerin Lona Rietschel, Irmtraud Winkler-Wittig, der Kolorist Jochen Arfert, Manfred Kiedorf (verantwortlich für Modelle und Zeichnung) angehörten... Mit anderen Worten: Man ging schon bald nach dem Start beim MOSAIK zu einem ganz ähnlichen Prinzip über wie man es im Westen mit dem Disney- und Kauka-Prinzip pflegte: Auf dem Heft MOSAIK stand nur der Name Hannes Hegen...
Auch schrieb Dräger nicht zuletzt die Texte für seine vielleicht populärstes Eigengewächs, den Ritter Runkel von Rübenstein-Zyklus... Dräger drang damit - ähnlich wie Kauka und Erika Fuchs - in den Volksmund ein, Sprüche wie "Ein Rittersmann von Schrot und Korn kennt sich selber nicht im Zorn!« oder »Sehr gut bewährt sich oft auf Reisen ein Anzug, welcher ganz aus Eisen.« wurden Kult.
Das SED-Regime wollte mit „Mosaik“ eine Antwort auf Disneys „Micky Maus“ und Kaukas „Fix und Foxi“ geben. Ihre Abenteuer führten die Digedags dabei bis ins Alte Rom, nach Amerika und ins Weltall - in der in den 1960ern entstandenen Reihe wird der Wettlauf zu den Sternen zwischen den Blöcken des Kalten Krieges spürbar. Auch an der Entstehung einer der berühmtesten "Mosaik"-Figuren war Dräger beteiligt: Ritter Runkel, der mit den Digedags bis in den mittelalterlichen Nahen Osten reiste. Dräger schrieb die berühmten Verse und Ritterregeln, die die Abenteuer begleiteten.
Dräger galt als der Macher im Hintergrund, entwickelte und skizzierte die Geschichten, entwarf die Storyboards der Comicseiten – gerne in Kooperation mit Hegen, später auch dem Comic-Autor und Mosaik und Atze-Chefredakteur Wolfgang Altenburger. Unter seiner Ägide verschlug es die Abrafaxe etwa ins Venedig des 17. Jahrhunderts, in die Wirren des Spanischen Erbfolgekriegs um 1700 oder ins Zeitalter der Kreuzzüge. Selbst Indien, Zentralasien und der Fernen Osten suchten die Abrafaxe heim.
Drägers Faible für Karl May – mag sein, dass dies die Reiseabenteuer der Abrafaxe und der Digedags beflügelte.
Zu DDR-Zeiten gerieten die Mosaik-Hefte zu Bestsellern, zeitweise lag in besten Zeiten die Auflage bei 600.000. Heute liegt die Verkaufsauflage im Monat bei etwa 70.000 Stück.
Die "Abrafaxe" haben es sogar ins Guiness-Buch der Rekorde geschafft: als längster Fortsetzungscomic der Welt. Ende 2015 feierte der Verlag den 40. Geburtstag der monatlichen Reihe.
Lothar Dräger ging 1990 in den Ruhestand, aber er blieb auch da von Kopf bis Fuß ein „Mosaik“ianer Er holte Bildungsreisen nach, die ihm während der DDR verwehrt waren, unter anderem in die USA und Großbritannien. Bis zuletzt besuchte Lothar Dräger gerne den Tag der offenen Tür im "Mosaik"-Verlag in der Berliner Lindenallee.
Es ist 26 Jahre her: 1990 saß Dräger im Übrigen mit COMICOSKOP-Chefredakteur und Moderator Martin Frenzel auf dem Podium „Im Osten viel Neues“ beim Internationalen Comic-Salon Erlangen – erstmals gesamtdeutsch.
Das „Neue Deutschland“ nennt Dräger posthum nicht zu Unrecht den „Schöpfer im Hintergrund“.
Zwischen 2002 und 2012 brachte Lothar Dräger insgesamt vier von Ulf S. Graupner illustrierte Romane heraus, in denen er die
Abenteuer von Ritter Runkel in Buchform fortsetzte.
Lothar Dräger hat deutsche Comic-Geschichte geschrieben - und muss künftig in einem Atemzug mit Rolf Kauka genannt werden. Wenn "MOSAIK" sich auch im Haifischbecken des gesamtdeutschen Kapitalismus als lebenstüchtig erwiesen hat, dann ist das vor allem sein Verdienst. Die "Abrafaxe" waren und sind der lebende Beweis, dass Comics made in Germany qualitätsvoll sein können. Sein Ideenreichtum, seine Geschichten werden bleiben. Man sollte Lothar Dräger 2018 nun wenigstens posthum mit einem Max-und-Moritz-Preis für sein Lebenswerk ehren. Es wäre höchste Zeit.
Am 9. Juli 2016 ist Lothar Dräger in Potsdam in aller Stille gestorben.
Martin Frenzel, Jg. 1964, Comicforscher & COMICOSKOP-Gründer, -Herausgeber und -Chefredakteur las schon in den 1980er Jahren mit Wonne die "Digedags"-Geschichten von Hannes Hegen, allen voran die legendäre Amerika-Serie, an denen Lothar Dräger - wie wir erst heute wissen - maßgeblich als Texter mitwirkte. Schon in den 1970er Jahren nahm er bei zahlreichen familiär bedingten Dresden-Besuchen Tuchfühlung mit der DDR-Comic-Szene, lernte "Mosaik", "Atze" und die FDJ-Postille "Frösi" ("Fröhlich sein und singen" kennen. Im Juni 1990 moderierte Martin Frenzel - kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und noch vor der Deutschen Einheit vom Oktober 1990 - die heute historische Podiumsrunde "Im Osten viel Neues" auf dem Erlanger Comic-Salon, an der u.a. Lothar Dräger, Volker Handloik und Schwarwel teilnahmen. Im gleichen Jahr, es muss der Winter 1990 gewesen sein, unternahm Martin Frenzel eine Recherche-Reise in die untergehende DDR, nach Ost-Berlin und Leipzig - besuchte u.a. Volker Handloik, die DDR-Undergroundmagazine RENATE, und etliche ostdeutsche Zeichner. Rasch war ihm klar, welche Perlen es da noch zu entdecken galt...