474 Exponate, darunter 341 Zeichnungen, vier Gemälde – und ein Leben voller Brüche: Da ist schon eine hervorragend zusammengestellte Werkschau im Frankfurter
Caricatura-Museum für Komische Kunst zu sehen. Sie macht die Wandlungen des Künstlers deutlich: Seyfried war weit mehr, er war und ist der Chronist der westdeutschen Wirklichkeit der 1970er und 1980er Jahre, der Abgründe, Absurditäten und Albernheiten des politischen Alltags. Feiner Beobachter,
scharfer Kritiker jener Atmosphäre, die Heinrich Böll einmal treffend mit „Sechs gegen 60 Millionen“ beschrieb. Jenes Klima des Überwachungs- und Sicherheitsstaats, des Wettrüstens und des Kalten Kriegs, der fürsorglichen Belagerung… Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt, so das heimliche Motto Seyfriedscher Knollnasen-Cartoons über Staatsgewalt, Politiker und Banken, Macht und die Schlapphüte vom Verfassungsschutz, Kapitalismus, Korruption und Konsumterror… Beim Betrachten seiner Bildgeschichten kann man, wenn man will,
bundesdeutsche Zeitgeschichte Revue passieren lassen.
„Ich bin im Grunde ein Anarchist“, sagt Gerhard Seyfried auf die Frage des Comicoskop-Reporters, warum er nun – nach Jahren der Wahlplakat-Treue zum GRÜNEN-Politiker Christian Ströbele – auf einmal ein Plakat für die Linkspartei gezeichnet habe. „Letztendlich bin ich Anarchist und will mit Parteien nichts zu tun haben…“ Seyfried auf den Spuren Gustav Landauers, Erich Mühsams und B. Travens, Karl Valentins und Wolfgang
Neuss… Seyfried, der Wortspiel-Akrobat: Da gerät das Kürzel „AL“, in Westberlin wohlbekannt für Alternative Liste“ stattdessen zu Armer Lenin, Armer Lummer,
Adieu Luxus…"Aaaaa-Loch"… Eine seine berühmtesten Zeichnungen aus der alten Szene-Zeit: Ein Freak mit Kopfhörer denkt „Die Gedanken sind frei!“… dahinter ein Schnüffler vom Verfassungsschutz mit der Gedankenblase: „Denkst Du!!!“
Nicht zu vergessen: Das „LalüLaLü LaLü“ der Seyfriedschen Polizeiautos nebst Gruppenbild mit Bulleten und Freakadellen…
Die Schau im historischen Leinwandhaus nahe des Mainufers macht dem Ruf des einzigen deutschen Museums für Komische Kunst, dem Frankfurter Caricatura-Museum, in dem bereits die Werke Jean Marc Reisers, Ralf Königs und Marie Marcks‘, Kurt Halbritters, Guido Siebers, Franziska Beckers, Bernd Pfarrs, Tomi Ungerers, Chlodwig Poths zu sehen waren u.v.a., alle Ehre: Denn sie geht in die Tiefe, zeigt den ganzen Gerhard Seyfried – von den Anfängen beim Münchner Szene-Blatt und bei „Pardon“ (Seyfried: „Bis zum Aufstand der Zeichner gegen Hans A. Nikel“), über den Kult-Cartoon „Wo soll das alles enden“ und diewilde Berlin-Kreuzberger Phase der 1970er und 1980er Jahre, weitet den Blickauf den Comic-Paradigmenwechsel des Gerhard S. (gemeinsam mit Gefährtin Ziska)zum moebius- und ridley scott-geprägten Science Fiction-Genre (FutureSubjunkies bis Kraft durch Freude).
Und sie endet beim ungeahnten, von der Kritik gefeierten Roman-Schriftsteller, der brisante Themen aus dem Zeitalter des Kaiserreichs wie den nicht aufgearbeiteten deutschen Völkermord an den Hereros in „Deutsch-Südwest“ von
1904, die Verbrechen der deutschen Kolonialgeschichte ebenso zum Thema macht
wie den Boxer-Aufstand in China (in Wahrheit die blutig-kolonialistische
Unterdrückung Chinas) und einen Spionage-Thriller kurz vor Ausbruch des Ersten
Weltkriegs („Verdammte Deutsche“), Stichwort: Marokkokrise,
Suffragettenbewegung, Titanicuntergang. Das Herero-Tabuthema war, wie Seyfried
erzählt, Folge einer Einladung nach Namibia, in 1999.
(c) Gerhard Seyfried
Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) schrieb etwa über Seyfrieds Herero-Roman: »Virtuos verwebt er historische Ereignisse, Figuren und Dokumente mit Fiktivem«. Aber auch den autobiografisch gefärbten Roman zur Generation des 2.Juni, über die Zeiten der RAF, Der schwarze Stern der Tupamaros, gehört
inzwischen zu Seyfrieds schriftstellerischem Repertoire… F.W. Bernsteins Lobeshymne auf Seyfrieds Können trifft den Nagel auf den Kopf: „Gelobt sei seine pusselige, wuselige Linie, die sich um die winzigsten Kleinigkeiten
kringelt..“
Eins wird mit dieser gelungenen, kenntnisreich zusammengestellten, wohlinszenierten Frankfurter Schau klar: Dieser Gerhard Seyfried hat gleich mehrere Häutungen in seinem Leben hinter sich – und sich immer wieder – zur Überraschung Vieler – neu erfunden.
Wandel durch Annäherung: Wohl niemand hätte geglaubt, dass aus diesem Gerhard Seyfried einmal der werden würde, der er heute ist. Er flog vom Humanistischen Gymnasium, weil er eine nackte Frau an den Heftrand kritzelte. Von 1963 bis 1967 absolvierte er zunächst eine Lehre als Industriekaufmann. Zwar kam er zur Bundeswehr, hielt es da aber lange nicht aus – und verweigerte den Kriegsdienst. Dann studierte er Gebrauchsgrafik in seiner Heimatstadt München: 1967 ließ Seyfried ein Studium der Malerei und Grafik an der Münchner Akademie für
das Graphische Gewerbe folgen. Ende 1969 flog er auch dort, weil man ihn als einen Rädelsführer der dortigen Streiks gegen die Notstandsgesetze bezichtigte.
Von 1970 an arbeitete er als selbstständiger Grafiker und Karikaturist für Werbeagenturen, lokale Firmen, dann aber vor allem fürs Münchner Szene-Stadtmagazin „Blatt“. „Wir hatten ständig die Polizei in der Redaktion, dagegen wollte ich mich mit dem Zeichenstift wehren“, so Seyfried jüngst im Interview des Bayerischen Rundfunks… Und, so Seyfried, im Interview zum 60. In der TAZ 2008: „Aber es ging mir, vor allem in den 70ern, darum, diese gottverdammte deutsche Ehrfurcht vor Uniformen und staatlichen Symbolen anzugreifen.…!“ Keine Angst
vor den Autoritäten! Man habe in dieser Zeit immer wieder verhaftet, wieder freigelassen, erneut verhaftet, schikaniert… Von 1971 an nannte er sich Karikaturist. Eine Wende stellt das Jahr 1976 dar, als der junge Gerhard Seyfried endgültig die Zelte im Süden der Republik abbrach, um – „durch Zufall“, wie er auf Comicoskop-Frage erklärt – nach West-Berlin zu gehen.
Von 1978 an besuchte er zudem mehrfach die USA, traf in San Francisco die Vorbilder und Freunde Gilbert Shelton und Paul Mavrides…
Der Amerika-Aufenthalt brachte auch einen Wandel im Selbstbild Seyfrieds: Von da an begriff er sich nicht mehr „nur“ als Polit-Cartoonist der Szene, sondern als Künstler, der auch einmal längere Geschichten erzählt…. Skizzenblätter in der Schau aus San Francisco und Berkeley legen davon Zeugnis ab.
Die vielen Gesichter des Gerhard Seyfried: Er operierte als Zeichner und Polit-Satiriker stets an der Schnittstelle zwischen Cartoon und Comic, erwies sich als wahrer Meister der komischen Kunst und scharfe Kritiker des autoritären Obrigkeitsstaats und illiberaler Staatsmacht-Praktiken
– und er wuchs über sich hinaus, machte sich eine diebische Freude daraus, „Schubladisierungen“ vom „Szene-Zeichner“ eindrucksvoll zu widerlegen: Da sprang plötzlich ein anderer
Seyfried aus dem Kaninchen-Zylinder: So sei seine Science Fiction- und Dystopie-Phase gemeinsam mit Ziska für viele szene-Fans „ein Schock“ (O-Ton Seyfried) gewesen. Und wer hätte gedacht, dass das geheiligte Feuilleton einen Gerhard Seyfried einmal als Schreiber von Geschichtsromanen auf hohem Niveau feiern würde?
Seyfried ist eben ein vielseitiges Multitalent, das man nicht unterschätzen sollte: Auch Schriftsteller, Historiker (oder besser: Geschichtsforscher), Übersetzer (Spezialgebiet historische militärische und nautische Terminologie, deutsch-englisch), Modellbauer (!), Journalist, Fotograf… Zwar 200.000 Exemplare Gesamtauflage erreicht, aber von Comic und Cartoon allein könne er nicht leben. Heute veröffentlicht Seyfried seine
neuesten Zeichnungen – und das ist paradox angesichts seiner Internet-Kritik – vornehmlich auf Facebook. Das Geld bringen die Romane. 2011 tat er im Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ kund: „ Ich lebe von drei Berufen:
Comiczeichner, Schriftsteller, Historiker. Drei Berufe braucht man heutzutage mindestens, um über die Runden zu kommen.“
Natürlich, Kreuzberger Nächte sind lang: Die Bullen, Bulletten, Bonzen, Berliner, die Freaks, Kiffer und die Spießer aus Justiz, Wirtschaft und Kleinbürgertum stehen selbstredend weiter
im Blickpunkt der auf zwei Etagen sich ausbreitenden, facettenreichen Frankfurter Ausstellung. Zahlreiche Skizzen, Tagebuchzeichnungen und wenig bekannte Arbeiten bilden das Tüpfelchen auf dem i. Kein Wunder, dass Seyfried im
Gespräch mit dem COMICOSKOP sagt: „Das ist die beste, größte Ausstellung, die ich je hatte.“
Es war 1990, vor exakt 25 Jahren, als Gerhard Seyfried (nicht zuletzt auf Betreiben des Schreibers dieser Zeilen, der damals Mitglied dieser Jury war) Deutschlands wichtigsten Comic-Auszeichnung, den Max-und-Moritz-Preis für sein Gesamtwerk auf dem Erlanger Comic-Salon erhielt – auch und gerade für sein damals hochaktuelles Meisterwerk „Flucht aus Berlin“ – DIE Satire zum Fall der Berliner Mauer, der einseitigen Kolonialisierung der ehemaligen DDR durch die westdeutsche Bundesrepublik, dem Ende des Westberliner Schollen-Daseins... Schon 1984 hatte Seyfried den Mauerfall auf einem Plakat visionär vorausgesehen – und damit vor Ronald Reagan… 2007 folgte dann der Wilhelm-Busch-Preis.
Man muss, was Oeuvre Seyfrieds im Bereich der grafischen komischen und weniger komischen Literatur angeht, wohl in zwei Abschnitte teilen: Die Zeit vor 1990 (dem Ende der westdeutschen und Westberliner Szene-Idylle!) und der Zeit danach (mit der deutschen Einigung, dem Zeitalter des entfesselten globalen Kapitalismus und deren Folgen).
1978 kam sein legendäres Werk „Wo Soll Das Alles Enden. Kleiner Leitfaden durch die Geschichte der undogmatischen Linken“ im Rotbuch-Verlag heraus (Neuaufl. 1998) und
ließ ihn endgültig zum Schutzpatron der Westberliner Hausbesetzerszene avancieren – in den späten 1970er und bis Mitte der 1980er Jahre war Seyfried denn auch der meist geklaute Zeichner der Republik – die Zahl der Raubdrucke in
Schülerzeitungen und Szeneblättern war Legion… Es war jene Zeit, als Seyfried sich als luzider Beobachter „menschlicher Verhaltensweisen“ (Achim Frenz) entpuppte, als einer, der illustrierte, politisch-soziologische Analysen zur Bewusstseinslage der bundesrepublikanischen Nation am laufenden Band lieferte. Immer zwischen Komik, Nonsens und zeichnerischer Wimmelbild-Akribie, Rasterfahndung und „finalem“ Rettungsschuss. Eine Seyfried-Zeichnung fehlte damals auf keiner linken WG-Toilette (und nicht nur dort), er war das, was August Bebel zu Kaisers Zeiten für Arbeiterfamilie war – fester Bestandteil des Wohninventars der Nach-APO-1978er-Generation.
Es folgten – im Elefantenpress Verlag (1979) – „Freakadellen
und Bulletten“ sowie 1980 „Invasion aus dem Alltag“ (Rotbuch Verlag). Mit den Freunden Wolfgang Stein, Tomas M. Bunk, Detlef Surrey und Hansi Kief(ersauer) steuerte er Arbeiten für den Sammelband „Irrwitz Comic“ (1983) bei…
Ein Jahr später, 1984, kündigte sich Seyfrieds Wandel vom reinen Szene-Cartoonisten zum epischen Comic-Zeichner an – mit „Das Schwarze Imperium“ (Rotbuch) warf er erstmals Cartoon-Szeneballast von Bord…Fraglos ein opus magnum jener Wandeljahre: Seine Comic zum Wende-Epochenjahr 1989, „Flucht aus Berlin“ (Rotbuch Verlag) von 1990.
Einen Wendepunkt markierte das Erscheinen des Comic-Dystopien für Erwachsene „FutureSubjunkies, mit der damals siebzehnjährigen Comic-Zeichnerin Ziska aliasFranziska Riemann (Jahrgang 1973; Rotbuch Verlag, Berlin) 1991.
Franziska Riemann alias Ziska /Foto: Ziska
Ziska machte sich später auch als Regisseurin, Drehbuchautorin und Musikerin einen Namen. Das war der Beginn einer langjährigenZusammenarbeit mit der wesentlich jüngeren Zeichnerkollegin, die freilich maßgeblichdazu beitrug, dass sich Seyfried vom Fluch „Nur Szene-Zeichner“ zu sein,befreien und sich selbst erneuern konnte. Abgesehen davon ist „FutureSubjunkies“ ein nach wie vor lesenswertes, düsteres Science Fiction-Werk. MitZiska bildete Seyfried fortan das Gespann der „Harmonian Anarchists“. 1992 folgte (mit denUS-Underground-Granden Gilbert Shelton und Paul Mavrides): Freak-Brothers-Story(Phineas' Big Show). Im Jahr darauf, 1993,legten er und Ziska den Folgeband zu „Future Subjunkies“ vor, „SpaceBastards“ (Rotbuch Verlag).
Es folgten “Let The Bad Times Roll” (Rotbuch Verlag, 1997),
“Bullen, Bonzen und Berliner, Wimmelbilder“, Rotbuch Verlag, 1998 sowie der dritte Band im SF-Zyklus mit Ziska, „Starship Eden“, diesmal im klassischen Comic-Verlag, dem Carlsen Verlag, Hamburg (1999).
Auch seine „Hanf und Cannabis“-Arbeiten finden sich im Caricatura-Museum: 1996 schrieb er mit Mathias Bröckers „Hanf im Glück“, 2000 erschienen – in seiner Schweizer Exil-Phase (Seyfried zog dorthin gemeinsam mit seinem Kumpel Matthias Bröckers) – die Cannabis Playing Cards. Die Kiffer Karten: Bube, Dame, König, Gras, (Skatkartenspiel), Nachtschatten Verlag, Solothurn und 2003 Seyfrieds Cannabis Collection. Kiff-Cartoons 1973-2003, Nachtschatten Verlag, Solothurn 2003.
2007 edierte Zweitausendeins noch einmal alle Comic-Alben in einer voluminösen Gesamtausgabe: „Die Comics. Alle“ (mit Ziska Riemann. Zweitausendeins, Frankfurt 2007).
Unter dem provokanten Titel »Kraft durch Freunde« (2010, Zweitausendeins) erschien Seyfrieds bis dato letzter Comic: Hier zog er gemeinsam mit Ziska das virtuelle Freunde-Sammeln bei Facebook & Co., den hemmungslosen Datenvampirismus im Überwachungsstaat, und den von Geilmärkten entfesselten Konsumrausch durch den Kakao. Im Mittelpunkt der Handlung: Das fliegende Smartphone „Muhn“… Kommunikationskonzerne paktieren mit den Mächtigen an der Regierung, allen voran mit deren Leiter für „Informationssicherheit“, Dr. Schräuble-Locker“ im Rollstuhl und „Dr. Schmiss“ (eine Roland-Koch-Parodie)…
Für Matthias Bröckers‘ 9/11-Buch von 2002 steuerte Seyfried etwa ein satirisches „Conspiracy Diagramm“ bei – das Buch geriet gleich zweimal „wegen Verwendung von
Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ ins Visier der Justiz und erlebte Beschlagnahme-Aktionen. Er sei, sagte Seyfried dem Berliner „Tip“-Magazin, nun einmal „Berufs-Pessimist“.
Wer Seyfried verstehen, wissen will, was ihn prägte, muss wohl weiter zurück als in die Sturm- und Drang-Zeiten der Westberliner Anarcho-Szene: Die Erlebnisse bei der
Bundeswehr sind zu nennen, vor allen Dingen aber seine heftigen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Vater, der bei den Braunhemden der SA war.
Ob wir zu diesem biografischen Thema bald einmal etwas in Comicform aus Seyfrieds Feder lesen dürfen? Auf der Pressekonferenz fällt, scheinbar beiläufig, der doch tief blicken lassende Seyfriedsche Satz: „Ich bin aufgewachsen als Kind in den Ruinen Münchens“. Ein Kind, das jene bizarre „Die
Mörder sind noch unter uns“-Atmosphäre offenbar bewusst erlebte.
Gerhard Seyfried gilt heute nicht umsonst als wohl
bester, bekanntester Undergroundcomix-Zeichner made in Germany – als deutsche Antwort auf Robert Crumb und die Freak Brothers um Gilbert Shelton… Ein fröhliches Wiedersehen gab es öffentlich beim Münchner Comicfest im Juni 2014, als Seyfried mit Shelton und Robert Crumb auf dem Podium saß…
Zugleich aber ist er nicht nur ein exzellenter Zeichner, zu Recht gerühmt für seine detailverliebten Wimmelbilder, seinen Sinn für gezeichneten Bildwitz-Klamauk, sondern auch ein begnadeter Satiriker, Gag-Tüftler und treffsicherer Wortwitz-Produzent…
man denke nur an seine herrlichen, noch immer urkomischen Wort-Verballhornungen der Städtenamen auf selbst kreierten Deutschland-Karten… (auch die hängt jetzt als Exponat im Caricatura-Museum). Kostproben gefällig: Östrogenreich“, „Krankreich“ oder „Vitalien“, oder auch „Bankfurt“ (oder „Gestankfurt“), „Besoffenbach“ und „Protzdam“… oder an seine Karikaturen und Cartoons im „Roten Kalender“ des Rotbuch-Verlags…
Dass Seyfried auch ein begnadeter Plakatzeichner ist, wird vermutlich Christian Ströbele zuallererst bestätigen: Es gibt Kenner, die sagen, dass Ströbele ohne Seyfrieds Schützenhilfe nie und nimmer seine Berliner Direktmandate gewonnen
hätte… Augenfällig ist die Zugkraft Seyfriedscher Plakatkunst auch bei seinen Arbeiten für den Kabarettisten Arnulf Rating oder die Gesamtausgabe von »Per Anhalter durch die Galaxis“ (mit Ziska)… Am Ende – auch das zeigt die Werkschau
– zeichnete sogar ein Plakat für den einstigen Erzfeind, die Berliner (Kiez-)Polizei.
Müssen wir eine Flucht Seyfrieds vor dem Comic- und Cartoon-Zeichnen befürchten? Wird es
in Zukunft „nur“ noch den Autor belletristisch-historischer Romane geben?
Gerhard Seyfried, inzwischen 67 Jahre alt (die man ihm nicht anmerkt), beruhigt: Iwo,
er habe da zwei Projekte im Bereich Comic und Cartoon in petto. Etwas Gesellschafts-
Satirisches, keine S.F. mehr, wie noch in den 1990ern. Allein, es gebe „finanzielle Schwierigkeiten“ – es fehle (bislang?) an einem Verlag, an
Geldgebern. Dieses Problem, so hoffen wir für ihn und für uns, sollte lösbar sein. Wir sind gespannt.
Apropos Finanzen: Erstmals hat sich der Kulturfonds Frankfurt Rhein Main bei einer großen Comic- und Cartoon-Ausstellung ins Zeug gelegt (auch wenn deren
Geschäftsführer, der frühere Wiesbadener Oberbürgermeister Helmut Müller, auf den Retter-in-der-Not-Einsatz für die durch Sicherheitsauflagen überteuerte Hanauer
Graeser & Lenz-Schau verwies). Ein Engagement, das Schule machen sollte.
Im Münchner
Antje Kunstmann Verlag ist bereits 2014 eine kleine, aber feine Anthologie
erschienen, die einen guten Querschnitt über Seyfrieds Schaffen bietet. Eine
Publikation, die man mit Fug und Recht als „Seyfried für Eilige“ bezeichnen könnte. Dieser empfehlenswerte Band firmiert nun als Begleitkatalog zur Ausstellung.
»Etliche Comics erinnern in ihrer spielerischen Verbindung von Bild- und Wortwitz daran, dass Seyfried fürs linke Milieu einst ähnlich bedeutsam war wie Loriot fürs
Bürgertum.« Der Tagesspiegel
Wie schmerzlich Seyfrieds gesellschaftskritisch-satirische Kommentare fehlen, zeigen seine momentan eher raren Cartoons auf seiner Facebook-Seite: Etwa der Cartoon-Gag über Kanzlerin Angela Merkels Reaktion auf ihr US-abgehörtes Handy im Fahrwasser der NSA-Abhöraffäre… und schreit der VW-Skandal, das miserable Management der Flüchtlingskrise durch die Bundesregierung, das intransparente TTIP-Gebaren der Mächtigen, das Phänomen der nervösen Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey) mit Erscheinungen wie
Pegida oder der radikalisierten AFD nicht nach einem Seyfried, der all dies aufs Korn nimmt? Heute, soviel Nostalgie muss erlaubt sein, wäre das moralische Gewissen der Nation, das Gerhard Seyfried in den 1970er und 1980er Jahren war,
ja doch nötiger denn je. "Ich bin dankbar für unsere dummen Politiker, die mir jede Menge Stoff liefern", sagt Seyfried im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Na also!
Wie üblich im Frankfurter Caricatura-Museum, braucht man bei einem Besuch jede Menge Zeit: Gilt es doch nicht nur Bilder zu betrachten, sondern auch zum Teil winzig
kleine geschriebene Wortwitze und komische Dialoge zu lesen…
Sonst noch etwas? Ja doch, Seyfried, der ewige Kreuzberger, ist keiner mehr. Er sei jetzt Schöneberger. Mensch Seyfried, so ändern sich die Zeiten…
Fazit dieser schönen, aufwendigen Ausstellung: Endlich, endlich ist Gerhard Seyfried dahin gelangt, wo er schon
längst hingehört hätte, ins Pantheon der Neuen Frankfurter Schule, die bundesweite Hochburg der Komischen Kunst… Der alte, der neue und neueste Seyfried – da weiß niemand so recht, wo das noch alles enden soll. Und das ist gut so.
Anders gesagt: Wer diese tolle Seyfried-Schau verpasst, ist selber schuld.
Das Caricatura-Museum für Komische Kunst öffnete seine Tore am 1. Oktober 2008 – und ist in Europa einzigartig. Seit 2008 fanden über 250.000 BesucherInnen den Weg
in dieses Museum der anderen Art. Mit mehr als 10.000 Originalen beherbergt das caricatura museum frankfurt die mit Abstand größte Sammlung der legendären
Neuen Frankfurter Schule um die Fantastischen Fünf (F.W.Bernstein, Robert Gernhardt, Chlodwig Poth, Hans Traxler, F.K.Waechter). Motto: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Eine Dauerausstellung zu Ehren
der NFS wird ständig neu gemischt – so groß ist der Fundus, aus dem die Museumsmacher schöpfen können. Spiritus Rector, Motor und Leiter des Museums ist von Beginn an Achim Frenz. Der damalige Frankfurter Kulturdezernent Bernd
Nordhoff (SPD) setzte das Museum im historischen Leinwandhaus gegen zum Teil massive Vorbehalte und Widerstände politisch durch. Heute will in Frankfurt
dieses Museum der anderen Art niemand mehr missen. Pro Jahr präsentiert das caricatura museum, das Frankfurts Nimbus als deutsche „Hauptstadt der Satire“ dokumentiert, zudem drei Wechselausstellungen: Es hat bis dato eine illustre
Parade von Künstlern Raum geboten. Die nächsten Ausstellungen 2016: Detlef Beck und Sebastian Krüger.
Martin Frenzel
Martin Frenzel, Gründer, Herausgeber und Chefredakteur des COMICOSKOPS und Autor dieses Ausstellungsberichts, Jahrgang 1964, begeisterter Seyfried-Fan von Jugendbeinen an, begegnete Gerhard Seyfried erstmals in den späten 1970er/frühen 1980ern: Da gehörte er zu denjenigen, die Seyfried-Zeichnungen in der Schülerzeitung druckten. Zudem war er viele Jahre lang stolzer Besitzer des alljährlichen Roten Kalenders aus dem Rotbuch-Verlag (in dem es mit Seyfried-Karikaturen & -Cartoons nur so wimmelte und überquoll). 1990 saß Martin Frenzel in der Jury des deutschen Comic-Oskars, des Erlanger Max-und-Moritz-Preises - und machte sich damals gegen nicht unerhebliche Widerstände (es gab ein namhaftes Jury-Mitglied, das massiv jemanden anderen favorisierte) stark für den Lebenswerk-Preis an Gerhard Seyfried (der ihn dann auch bekam). 1991 schrieb er dann ausführlich und lobend über Seyfried und Ziskas Kulturschock "Future Subjunkies" für die damals von Arno Widmann redigierte Kulturseite der Berliner TAZ. In den späten 1980er und 1990er Jahren schrieb Martin Frenzel für die damals noch existierende Frankfurter Rhein-Main-Städte-Illustrierte az ("andere zeitung") regelmäßig über Comics (u.a. Porträts/Interviews von/mit Bernd Pfarr, Volker Reiche) und betreute dort auch eine Kolumne Comic des Monats. Für den Frankfurter "Pflasterstrand" von Dany Cohn-Bendit (inzwischen im "Journal Frankfurt" aufgegangen) schrieb er ebenfalls über Comics. Die Frankfurter Werkschau SEYFRIED geriet insofern zum wunderbaren Déjà-vu.
(c) Joost Swarte / Baseler Cartoonmuseum 2015
(c) Joost Swarte / Cartoonmuseum Basel 2015
Das sehenswerte Baseler Cartoonmuseum zu Basel. Foto: (c) Baseler Cartoonmuseum 2015.
War 1980 der Durchbruch Joost Swartes im deutschen Sprachbereich: Der bibliophile, formschöne Comic-Band "MODERN ART" - erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt/Main.
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