Vor genau 50 Jahren kam eine der besten westdeutschen Comic-Eigenproduktionen zur Welt, heute zu Unrecht vergessen, die aber unter Kennern als absoluter Geheimtipp gilt: Die SCHINDEL-SCHWINGER - "Der Kampf um Flohheim". Eine kreative Schnaps-Idee von Michael Ryba (1947-2014, seit 1981 freischaffend tätig als Designer, Maler, Illustrator, Cartoonist, Autor und Dozent, der tragisch, viel zu früh durch einen schweren Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen wurde) und Peter- Torsten Schulz, geb. 1944, Maler, Dichter, Fotograf, Buchautor, Betreiber des ATELIERS FÜR ANGEWANDTE KUNST in Mülheim an der Ruhr.
Als eine „anarchische deutsche Comicreihe“ gelten die vier echten SCHWINDEL-SCHWINGER-Alben gerne, deren fünftes ohne Erlaubnis von Autor Schulz und Zeichner Ryba erschienen und deutlich schlechter von unbekannter Hand gezeichnet war. Für manchen Betrachter ist vor allem viel Blasphemisches in den wunderbaren, bis heute einzigartigen SCHWINDEL-SCHWINGER-Bänden zu entdecken, doch immer liebevoll präsentiert und letztlich die Kräfte von Himmel und Hölle einander näher bringend. Das 50jährige Jubiläum in diesem Jahr 2025 ist Grund genug, in diesem COMICOSKOP-Dossier Bilanz zu ziehen - über 50 Jahre SCHWINDEL-SCHWINGER.
Nachdem er die Welt erschaffen hat, gönnt sich der Schöpfer einen guten Whisk(e)y – und schläft prompt in einer Lehmkühle ein. Pech ist, dass ausgerechnet dort einige „Geschöpf-Prototypen“ eingelagert sind, Proben genannt, die nun durch des Schöpfers Atem zum Leben erweckt werden - darunter „Schindel-Schwinger“, seines Zeichens Drache mit blonden Haaren und Boxhandschuhen. Die Proben machen sich aus dem Staub und gründen eine Stadt namens "Flohheim". Besorgt um sein Ansehen, beauftragt Gott Petrus und Luzifer, die Entflohenen zurückzuholen. Welcher von beiden das schafft, der soll später über die Erde herrschen: So beginnt der also, der Kampf um Flohheim, verbindender Titel aller fünf Bände. Neben dem Held Schindel-Schwinger, dem mit großem Ego ausgestatteten Retter von Flohheim, ausgestattet mit starkem Ego, ist Bimmel-Beule zentrale Figur des Comics, der Bürgermeister, eine Kreuzung aus Walross und Elch. Da nach Abbruch der Reihe ein mögliches Ende noch fern ist, bleibt auch offen, ob der Wettstreit zwischen Petrus und Luzifer enden sollte wie bekannt: Petrus (resp. sein Nachfolger, der jeweilige Papst) als „Herrscher“ der Erde, Luzifer weiter als Boss der Unterwelt …
Schindel-Schwinger traf offenbar den Zug der Zeit, fand seine Leserschaft Mitte der 1970er Jahre. Doch beim Erscheinen des illegalen fünften Bands 1977 war „das Tischtuch bereits zerschnitten“, zwischen dem Autoren-Duo und dem herausgebenden Verlag ILLUPress: „Als Autoren wurden weiterhin Peter Schulz und Michael Ryba angegeben. Die Produktion erfolgte durch das Studio Mondadori in Italien unter Copyright-Verletzung ohne Beteiligung der beiden Autoren und Rechteinhaber. Nach dem vierten Band gab es Streitigkeiten. Der Verlag forderte ein kindgerechteres und weniger komplexes Szenario und wollte das Script nicht mehr von Peter Schulz schreiben lassen.
Ein neuer Vertrag kam nicht zustande, so dass der Verlag ohne Wissen von Ryba und Schulz dieses Album produzieren und vertrieben ließ. Eine Fortführung seitens des Verlages konnte rechtlich unterbunden werden, so dass das als Band 6 mit dem Titel "Schindel-Schwinger schnappt die Agenten" angekündigte Album nicht mehr erschienen ist.“ (http://www.comics.org/issue/839281/) Schade eigentlich: Gilt die Serie unter Intellektuellen auch der Jetzt-Zeit doch als Geheim-Tipp, wobei sie unterschiedlich gut verfügbar sind, wie die Preise des jeweiligen Albums im Zweitmarkt zeigen... Eine Neuauflage aller Michael Ryba-SCHWINDEL-SCHWINGER-Alben wäre längst überfällig, gerne mit redaktionellem Teil und Porträts über das Autoren-Duo. Merke: Wer die SCHINDEL-SCHWINGER nicht kennt, ist selber schuld, hat wirklich etwas verpasst, in diesem Leben!
HPR
Vor zwei Tagen erhielt ich zu meiner Freude aus Sammlerbeständen die Bände 3 und 4: „Schindel-Schwinger zwickt die Hexen“ und „Schindelschwinger stoppt den Ölexpress.“ Neben vielem Schmunzeln und Freude an Zeichnung, Text und Episoden durchaus etwas Verwunderung: Insgesamt dominieren nun eher dunkle Farben; die Vielfalt und rollenspezifischen Handlungen der nach wie vor voller Zuwendung und Sorgfalt gezeichneten Charaktere glimmt nur durch – zugunsten von Schindelschwinger und dem Nicht-Teufelchen Teufelchen Saulus, der unbedingt ein Flohheimer werden möchte. Die selbstredend dennoch amüsante Lektüre lässt Freiraum für Entdeckungen, die sich in der mentalen Wolke, in Philosophie, in Haltung (neudeutsch „mindset“) sowie in der Art deren Erscheinung der Autoren/Illustratoren Michael Ryba und Peter-Torsten Schulz verbergen und hochgradig vergnüglich übersetzt werden, zeichnerisch, szenisch, textlich (nonverbal, verbal), geschehenbezogen.
Aufgrund des Titelnamens und der Hervorhebung der Figur Schindelschwinger könnte man meinen, Schindelschwinger sei der (alleinige) Held im Sinn von bestmöglicher Bewährung, von Erfolg und ruhmhafter Taten. Dass dem keinesfalls so ist, sondern das Heldentum verteilt ist auf alle Flohheimer, zeigen die beiden Bände sehr schön – gerade weil die beiden im Geschehen eher im Hintergrund agieren, vor allem im „Ölexpress“.
Erfolg bis Heldentum des sympathischen, tolpatschigen, gutmütigen und naiv-mutigen Großmauls Schindelschwinger braucht die anderen Flohheimer, um als „der größte“ zu erscheinen. Und die psychologisieren und moralisieren nicht, wollen ihn nicht belehren, verzichten darauf, ihn zurechtzuweisen: Sie mögen ihn, wie er ist – und in seiner soziodynamischen Rolle das Proben-Volk. Sie stellen sich nicht nur nicht über ihn, sondern unterstützen ihn im Hintergrund, also so, dass er es nicht bemerkt.
Dass sie auf diese Weise seine Größenfantasie nähren – egal und amüsant, sogar wünschenswert, weil Schindel-Schwinger als Schindelschwinger geliebt und gebraucht wird. Herrlich wohltuend, diese Amoralität und Psychoabstinenz, zumal beides aufs Sympathische zeigt, dass Wertschätzung nicht in Weichspülung von Wort und Handlung lebt, sondern in der praktischen Anerkennung rollen-, figuren-, charakterspezifischer Eigenheiten in der und für die Gruppe, für sozialen Frieden und Freude, für Zusammenhalt: Den Flohheimern gebührt Dank.
Wer zudem den Eindruck hat, dem Comic liege ein manichäisches Weltbild von Gut und Böse zugrunde, liegt falsch. Denn bereits in der sprechenden und handelnden (auch tretenden und fluchenden) Figur des Petrus vereinigen sich Facetten beider Welten – und wie dies sprachlich transportiert - kaschiert oder auch verbrämt - wird, ist wiederum meisterlich gelungen. Diese Überblendung finden die Leser in sämtlichen Charakteren der Burg und des Vulkans. Eine Fundgrube neben Zeichnung und Sprachverwendung sind die Handlungen, denen neben List, Tücke und action-reichen Aktionen ebenfalls zu eigen ist, dass – zugespitzt formuliert – gleiches bzw. ähnliches Handeln zwar höllisch bzw. himmlisch verbal verkleidet ist, doch zu Zusammentreffen führt, die bei aller scheinbaren Gewalt die Tölpelhaftigkeit auf beiden Seiten in den Vordergrund schiebt und damit das vermeintlich Gewalttätige entschärft und ebenfalls das Sowohl-als-auch, die Nichtklarheit von Gut und Böse, das Überlappen beider Welten erlebbar macht.
Und wer sich im konzeptionellen Umfeld von (auch sprachlichem) Konstruktivismus bewegt, findet immer wieder kontextuell gefärbten Sprachgebrauch:
die gleiche Botschaft in unterschiedlichen, vom Milieu (Herkunft: Himmel - Hölle, Burg – Vulkan) gefärbten Vokabular, das Worte wie auch alles Nonverbales erfasst. Höchst gelungen und höchst
amüsant!
Dr. rer. Soz. Regina Mahlmann
Dr. rer. soc., MA phil. Regina Mahlmann, Jg. 1959, unterstützt und begleitet Unternehmen in Veränderungsprozessen in Form von Prozessberatung, Coaching on- und off-the-job, lösungsorientierten Workshops, Moderation und Vorträgen im Dreieck CH-D-A. Themenschwerpunkte sind Persönlichkeitsarbeit, Führung und Zusammenarbeit, Unternehmenskultur, Konfliktmanagement und Teamentwicklung. Als Autorin zahlreicher Artikel und Bücher berät sie bei der Erstellung von Vorträgen, Artikeln und Büchern.